Am 2. August veröffentlichte der Deutschlandfunk ein Feature, das sich mit der Frage beschäftigt, auf welchen Grundlagen wer künftig über Regeln und Standards entscheidet. Die Reportage ist lang, aber die Lektüre lohnt sich. Denn viel mehr muss zu TTIP nicht gesagt werden.
Hier das Transkript des Radiobeitrags.
Risikobewertung in der Forschung
Wie TTIP mit Fakten hantiert
TTIP soll das größte Handelsabkommen aller Zeiten werden. Die Beteiligten versprechen: Europäische Standards bleiben unangetastet, Grenzwerte für Giftstoffe werden wissenschaftlich solide ermittelt. Doch was bedeutet das in der Praxis? Schon jetzt gibt es in diesem Bereich ein Kräftemessen um die wissenschaftliche Meinungshoheit.
Von Peter Kreysler
Originalton Angela Merkel: „Und das ist die erste Botschaft: Das, was von der Europäischen Union an Standards vereinbart ist, das wird nicht abgesenkt. Das ist die Voraussetzung für das Verhandlungsmandat.“
Alle hohen europäischen Schutzbestimmungen bleiben erhalten. Das höre ich immer wieder, wenn vom Transatlantischen Freihandelsabkommen die Rede ist. Ich höre auch, dass Entscheidungen künftig auf dem soliden Fundament der Wissenschaft gründen sollen: „Also Zulassungsverfahren müssen da wissenschaftlich basiert sein…“
Alles erfreuliche Botschaften. Warum sollte ich mich also fürchten?
„Also das liest sich harmlos, hat aber eine hohe Sprengkraft. Wenn man die europäischen Regeln aushebeln will, kann man das über diesen Ansatz natürlich am besten machen.“ Der junge Umweltanwalt Baskut O. Tuncak kommt heute ganz entspannt mit kurzen Hosen und T-Shirt ins Büro. Er arbeitet für das Center for International Environmental Law CIEL in Washington D.C., nicht weit vom US-Kongress, und beobachtet genau, welche Kräfte in der Gestaltung und Umsetzung von Gesetzen wirken; wie Lobbyisten, Politiker, die Medien, aber auch wissenschaftliche Institutionen mit Gutachten und Einschätzungen ihren Einfluss entfalten. Ich bin nach Washington gekommen, um Antworten zu finden zu den Widersprüchen im Transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP.
„TTIP soll das größte Handelsabkommen aller Zeiten werden“, sagt Tuncak. „Und besonders die regulatorischen Unterschiede verringern oder gar beseitigen. Die EU-Kommission verhandelt zur Zeit eine gegenseitige Anerkennung der Standards durch eine sogenannte Positiv-Liste. Das könnte zum Beispiel dazu führen, dass in Zukunft in den USA hergestellte Kosmetika eingeführt werden dürfen, die bisher von der EU verboten waren, weil sie giftige und gefährliche Stoffe enthalten. Ich nenne Ihnen ein Beispiel, wie gross die Unterschiede inzwischen sind: Die USA haben nur elf chemische Stoffe für die Verwendung in Kosmetika verboten. Die EU hat 1.300 aus dem Kosmetiksektor verbannt.“
Schiedsgericht: Kanada musste Unternehmen entgangene Gewinne erstatten
Wenn es gelänge, die neue TTIP-Handelsarchitektur umzusetzen, hätten wohl die Verbraucher das Nachsehen, auch das EU-Parlament würde in seinem Gestaltungsspielraum beschränkt, so seine Befürchtungen. Kann er seine Sorgen an Beispielen festmachen, frage ich ihn.
Tuncak erklärt, dass er drei wichtige Mechanismen besonders kritisch sieht: Wissenschaftlich basierte Zulassungsverfahren, die das EU-Vorsorgeprinzip aushebeln; den Regulatorischen Rat, der Lobbyismus an einem permanenten Verhandlungstisch institutionalisiert; und ein im Geheimen tagendes Investoren- Schiedsgericht, bei dem Unternehmen Staaten auf entgangene Profite verklagen können. Diese drei Pfeiler bilden eine effektive Deregulierungs-Kette. Sie werden von Wirtschaftsverbänden auf beiden Seiten des Atlantiks gefordert und sind aktueller Bestandteil der TTIP-Verhandlung. Seit über 20 Jahren finden diese in Nordamerika bereits ihre Anwendung. Sie wurden mit NAFTA, der Nordamerikanischen Freihandelszone eingeführt, auch deshalb gilt NAFTA als Blaupause für TTIP.
Tuncak nennt ein Beispiel: „Kanada hatte ein Gesetz verabschiedet, das die Beimischung von Nero-Toxin in Benzin verbot. Obwohl die USA das gleiche Gesetz bereits hatten, dort war giftige Beimischung bereits untersagt, konnte ein US-Unternehmen den kanadischen Staat vor einem ISDS-Schiedsgericht verklagen, als Kanada das gleiche Gesetz einführte.“
Klingt erst mal absurd, denke ich, und: Weiß man, wie dieses geheime Schiedstribunal ausgegangen ist?
„Kanada verlor den Prozess und das Ergebnis war: das Nero-Toxin-Gesetz musste in Kanada rückgängig gemacht werden, Kanada musste dem Unternehmen die verloren gegangenen Gewinne erstatten und musste sich bei dem Unternehmen sogar entschuldigen.“
Man müsse sich das wie eine große Zwiebel vorstellen, versucht Tuncak die komplexe Materie in ein verständliches Bild zu rücken. „Um neue Verordnungen oder Grenzwerte hätten sich viele administrative Schichten gelegt, die den Prozess verlangsamen oder sogar verhindern könnten. Erst wenn die Zwiebel geschält wird, kommt das Gesetz zur Wirkung – und wenn das gelingt, treibt es den Unternehmern wahrscheinlich Tränen in die Augen, meint er lachend. Aber es gehe noch weiter mit dem Schälen.
Die nächste Verhinderungsschicht ist eine Institution, die bei TTIP der Regulatorische Rat genannt wird. An diesem neuen Verhandlungstisch sitzen Handelsexperten und Juristen und schauen sich neue Verordnungen und Gesetze an, die ein neues „Handelshemmnis“ darstellen, oder sie machen eine Kosten-Nutzen-Rechnung.
„Zum Beispiel entwickelt die EU zur Zeit für die Nanotechnologie ein neues Registrierungsverfahren. Sobald aber die EU das einführen wollte, könnte das US-Handelsministerium das als ein Handelshemmnis erkennen und über diese neue Institution des Regulatorischen Rats diese neue Nano-Verordnung stoppen.“ Und zwar, bevor das EU-Parlament diesen Vorschlag beraten kann. Das hat schwerwiegende Auswirkung auf die Gesetzgebung:
„Der für TTIP geplante Regulatorische Rat hat also einen sehr starken Verlangsamungseffekt oder ‚Chillingeffekt‘ – das wird für Gesundheits-, Umwelt-, Chemie- und Arbeitsrechts-Standards gelten.“
Dabei könnte das Aushebeln von Gesetzen bereits viel eher beginnen. Nämlich da, wo festgestellt wird, ob ein Produkt gefährlich ist, also in den Laboren der Forscher. Tuncak schlägt mir vor, das doch selbst an einem Beispiel zu überprüfen: „Das Pestizid Atrazin ist in der EU verboten und in den USA immer noch erlaubt. Warum ist das so?“
Chemiekonzern Syngenta setzte Wissenschaftler unter Druck
Nach dem Interview gehe ich in ein Café und recherchiere im Internet etwas über das Pflanzenschutzmittel Atrazin: 33 Millionen Kilogramm wurden 2013 in der industrialisierten Landwirtschaft in den USA verwendet, die Hälfte des Maises und 90 Prozent des Zuckerrohrs damit besprüht. Atrazin wird nur sehr langsam abgebaut und reichert sich im Grundwasser an. Seit über zehn Jahren darf es in der EU nicht mehr angewendet werden, weil befürchtet wird, dass es Fauna und Flora gefährdet. Auch eine schädliche Wirkung auf Menschen kann nicht ausgeschlossen werden.
Wie kamen die Regulierungsbehörden auf beiden Seiten des Atlantiks zu so unterschiedlichen Einschätzungen, frage ich mich.
Ich spreche mit Tyrone Hayes. Der Biologe forscht seit 15 Jahren an einer öffentlichen Universität in Kalifornien. „Ich untersuchte in Berkeley die Wirkungen von Hormonen und chemischen Verbindungen auf Amphibien, als der Hersteller von Atrazin auf mich zukam, um die Wirkung von Atrazin auf Frösche zu erforschen.“
Professor Tyrone Hayes erklärt, dass er Drittmittel der Industrie angenommen habe, dafür habe er einen hohen Preis gezahlt: „Bei diesen Studien habe ich herausgefunden, dass das Pflanzengift Atrazin die Entwicklung bei männlichen Fröschen so stark stört, dass sie sich zu weiblichen Fröschen entwickeln. Die männlichen Frösche entwickelten sogar plötzlich Laich – also Froscheier.“
Ein Ergebnis, mit dem niemand gerechnet hat – auch nicht Syngenta, der Hersteller von Atrazin: „Die Firma hinderte mich daran, diese Arbeit zu veröffentlichen. Dann baten sie mich, meine Daten extra zu manipulieren und zu verändern. Und schließlich verboten sie mir komplett, über meine Forschungsergebnisse in der Öffentlichkeit zu reden. Ich weigerte mich.“
Der Chemiekonzern Syngenta versuchte, durch eine Art PR-Gegenkampagne seine Ergebnisse zu widerlegen, ihn zu demontieren, lächerlich zu machen. Und nicht nur das: Tyrone Hayes erzählt von einem Lieblingsfeind, Tim Pastoor, Wisssenschafler von Syngenta, der ihn bei einer Veranstaltung mit wüsten Bedrohungen provoziert habe, Teil einer Einschüchterungskampagne.
Ich habe bei der Basler Konzernzentrale von Syngenta schriftlich angefragt wie sie denn zu diesen schweren Vorwürfen von Tyrone Hayes stehen? Die Presseabteilung antwortete via E-Mail: „Die Forschungsergebnisse von Hayes sind nicht reproduzierbar. Unsere Kommunikationmaßnahmen waren stets darauf ausgerichtet, die wissenschaftlichen Fakten klarzustellen. Und: Das Verbot in der EU, Atrazin nicht mehr zu registrieren, war rein ‚politisch‘ motiviert.“
In den USA gilt das Nachsorgeprinzip: Man muss eine Gefährdung nachweisen
Das ganze klingt eher nach einem Hollywood-Thriller, als nach dem Alltag eines Wissenschaftlers, der mit Fröschen forscht, denke ich. War der junge Professor vielleicht paranoid geworden? Vor einigen Monaten wurden interne Memos im Rahmen eines Prozesses veröffentlicht, die das Vorgehen des Unternehmens genauestens dokumentieren: Diese Syngenta-Unterlagen zeigen, dass Detektiv-Agenturen beauftragt wurden, um den Wissenschaftler zu überwachen, sein Telefon wurde abgehört und seine E-Mails wurden gelesen, um ein psychologisches Profil von Tyrone Hayes herzustellen. Die freigegebenen Gerichtsdokumente zeigen umfassende interne Firmenkommunikation und Memos. Hier stellt sich mir die Frage, ob sich ein einzelner Wissenschaftler oder eine öffentliche Universität gegen solche Attacken und Methoden überhaupt wehren könnte.
„Jede unabhängige Studie fand ähnliche Probleme. Wir haben gerade weitere Studien veröffentlicht, bei denen 22 Wissenschaftler aus 12 Ländern mitarbeiten: Atrazin führt zu Problemen in Sexualorganen bei Säugetieren, Fischen und Vögeln.“
Doch die US-Umweltschutzbehörde EPA ließ dieses Pestizid weiter auf dem Markt. Die wissenschaftliche Beweislage war für das Prüfpersonal nicht eindeutig genug. Denn in den USA gilt das Nachsorgeprinzip: Man muss die Gefährdung nachweisen, den sogenannten „Proof of Harm“. Die Industrie kann bei diesem System die Entscheidungshoheit leicht erringen. Forschungsergebnisse können behindert, manipuliert, gekauft und unterwandert werden, wie das Beispiel Tyrone Hayes deutlich belegt.
Außerdem sind Risiken nicht immer eindeutig beweisbar. Manchmal gibt es nur Verdachtsmomente, erste Hinweise, die man mit mehr Studien und Zeit untersuchen müsste. Gründe, warum das Zulassungsverfahren in Europa viel abwägender ist – schließlich gilt hier das Vorsorgeprinzip. Die EU ging in einem ganz ähnlichen Fall jüngst anders vor: im Fall der Neonicotinoide. Befürchtungen waren laut geworden, dass dieses Pestizid Bienen beeinträchtigt, zum Beispiel indem es ihr Lernvermögen und ihren Orientierungssinn stört. Das war Anlass genug für ein Moratorium, das am 1. Dezember 2013 in Kraft trat und den Forschern Gelegenheit gab, dem Verdacht nachzugehen. Ich reise zurück nach Europa und frage mich, ob dieses Prinzip tatsächlich durch TTIP ausgehöhlt werden könnte, wie Kritiker warnen?
An diesem grauen Morgen sitzt die Vorsitzende des Umweltausschusses Bärbel Höhn in ihrem großen Büro auf der untersten Ebene des Bundestages. Auch sie kam erst kürzlich von einer Reise aus den USA zurück. Ich erzähle ihr von meiner Recherche über Atrazin, sie nickt nur, als wäre das alles altbekannt: „Ich war mit dem Umweltausschuss des Bundestags in den USA. Wir haben mit der Umweltbehörde EPA gesprochen, die haben gesagt: ‚Das wäre super, wenn wir REACH hätten [die Europäische Chemikalienverordnung].‘ Wenn wir jetzt mit den niedrigen Standards im chemischen Bereich der USA konfrontiert werden, wird es automatisch zum Absenken führen.“
Ich bin noch immer skeptisch, ob es dafür Belege gibt. Schließlich wird das US-amerikanische Abkommen TTIP hinter verschlossenen Türen verhandelt und es gibt kaum Informationen. Sind die Befürchtungen vielleicht doch nur Mythen der TTIP-Kritiker? Auch Bärbel Höhn hat sich das gefragt. Doch inzwischen liegt der Text zum kanadischen Abkommen CETA vor, an dem sich einiges ablesen lässt.
Höhn: „Also, die einen sagen ja immer, das sind Mythen, aber begründen das nicht. Und ich kann das sehr wohl begründen, denn wir haben uns die Texte von CETA – demkanadischen Abkommen – angekuckt. Die Frage ist, was wird in der Zukunft sein? In Zukunft steht da eindeutig drin: ‚efficient science based – also, das muss effizient sein, die Genehmigung, und muss wissenschaftlich basiert sein. Und da ist halt die Frage, können wir das noch mit solch einem Freihandelsabkommen?“
Wird der Vertragstext nicht eingehalten, kann es für den Steuerzahler teuer werden
Kennen die Berliner Bundestagsabgeordneten den Text und wissen sie, was sich verbirgt hinter dem so harmlos klingenden Begriff? Wie sehen das die Experten, die seit Jahrzehnten für Deutschland und Europa die Zulassung bei der sogenannten ‚Grünen Gentechnik‘ überwachen? Ich bitte Wolfgang Köhler um eine Einschätzung. Er kennt das Ringen der Industrie mit den Sicherheitsbehörden. Köhler ist ein ausgewiesener Fachmann, überwachte als Abteilungsleiter ein knappes Jahrzehnt für die Bundesregierung die Zulassung von Gentechnik in der Landwirtschaft, dabei stand er der Gentechnik anfangs durchaus unbefangen gegenüber, wie er mir erklärt.
„‚Science based‘ ist eine Begrifflichkeit, die wir auch aus internationalen Handelsverträgen kennen, die steht auch in der WTO. Das bedeutet: Sie dürfen nur Produkte verbieten, vom Markt nehmen oder den Markteintritt hindern, wenn sie wissenschaftlich begründete Beweise haben, dass das Produkt schädlich ist. Das ist die Philosophie, die dahinter steht“, sagt Köhler.
Nachdem der gelernte Jurist sich den bereits vorliegenden CETA Vertrag genau angeschaut hat, ist er überrascht von der Eindeutigkeit. „Dass es so eine solche Dreistigkeit gibt, hätte ich ehrlich gesagt auch nicht erwartet.“
Und er ergänzt, dass dieses Freihandelsabkommen einen absolut völkerrechtlich bindenden Vertrag darstellt, der jederzeit bei der Welthandelsorganisation eingeklagt werden kann. Wird der Vertragstext nicht eingehalten, kann es für den Steuerzahler also richtig teuer werden. Viele, sagt Köhler, unterschätzten die Gefahren: „Es wird eine Entwicklung stattfinden, die alles, was wir an Sicherheitsvorkehrungen haben, versuchen wird auszuhebeln. Genau das wird stattfinden. Und alles, was unsere Politiker uns jetzt erzählen: ‚Wir brauchten alle da keine Angst zu haben; alles bleibt hier in Europa wie es ist‘ – da würde ich sagen: Entweder wissen die überhaupt nicht, wovon sie reden, oder sie erzählen uns bewusst dummes Zeug!“
Bundestagsmitglied Jürgen Hardt von der CDU-Fraktion – er koordiniert die TTIP-Verhandlungen fürs Kanzleramt – widerspricht. Er sieht in dem rein wissenschaftlichen Ansatz, den die USA und Kanada fordern, kein Problem: „Ich glaube schon, es ist die Methode, die wir insgesamt für die richtige halten: Wenn etwas verboten oder erlaubt wird, dann muss es nachvollziehbare sachliche wissenschaftliche Basis und Begründung geben, also nicht Emotionen oder das Bauchgefühl sollte uns leiten, sondern das, was wir konkret messen, wiegen, fühlen und wissenschaftlich ermitteln können. Und ich glaube, dass es doch ein Fortschritt ist, wenn wir uns nur auf solche Methoden stützen.“
Wolfgang Köhler hingegen weist darauf hin, wie die Risikobewertung der Forscher bei der Produktsicherheit in der Regel zustande kommt. Nach seiner Ansicht ist sie selbst in Europa nicht ausgewogen genug, als dass man sich im Zulassungsverfahren nur auf sie stützen dürfte. Schließlich: Die meisten Gutachten, die für die Risikoeinschätzung verwendet werden, werden von der Industrie vorgelegt.
Wem soll man glauben: der Industrie oder dem Wissenschaftler?
„Science Based“. Auf wissenschaftliche Forschung basierend. Das klingt alles ganz ganz toll, klingt auf den ersten Blick so, als ob alles „todsicher“ ist und immer 100 Prozent stimmen muss. Aber das gibt es nicht! Wissenschaft ist auch Politik. Es gibt keine unabhängige Wissenschaft, es gibt keine unabhängige Forschung. Deshalb ist es hochgefährlich und aus meiner Sicht auch nicht akzeptabel, eine Entscheidung allein in die Hände von Wissenschaftlern, von Forschern zu legen. Dazu bedarf es eines gesellschaftlichen Diskussionsprozesses und der Entscheidung durch Politiker, die dafür gewählt worden sind und vielleicht auch wieder abgewählt werden. Wissenschaftler allein sind nicht eine ausreichende Quelle und für dieses Korrektiv haben wir das Vorsorgeprinzip.“
Der Fall des US-amerikanischen Froschforschers Tyrone Hayes ist kein Einzelfall. Auch in Europa können Forscher, die zu neuen und unbequemen Erkenntnissen kommen, leicht unter Druck geraten. Wer sich zu weit raus wagt, dem werden Karriere und der wissenschaftliche Ruf zerstört, höre ich immer wieder. Namen und Beispiele werden genannt, wie der französische Wissenschaftler Gilles-Eric Séralini. Was an ihren Forschungsergebnissen dran ist, lässt sich für einen Laien kaum noch feststellen. Wem soll man glauben: der Industrie oder dem Wissenschaftler?
In Halle treffe ich einen Bienenforscher, der im Auftrag des Landwirtschaftsministeriums den Monsanto-Mais MO 810 auf die Verträglichkeit für Bienen überprüfte. „Anfang des Jahrtausends habe ich mich hauptsächlich mit Gentechnik auseinandergesetzt und es gab viele Studien, die eigentlich gezeigt haben, dass das den Honigbienen nicht schadet. Und mit dieser Erwartung bin ich auch dran gegangen.“
Viele Wissenschaftler der Industrie bestritten, dass es zu einem horizontalen Gen-Transfer bei Bienen kommt. Henrich Kaats konnte jedoch das Gegenteil nachweisen. „Dann haben wir versucht, das bei Nature [einem sehr angesehenen Fachmagazin] zu publizieren und die Gutachter waren eigentlich positiv. Dann haben wir lange nichts mehr von Nature gehört.“
Inzwischen war ein Fernsehteam auf den Bienenforscher in Halle aufmerksam geworden und wollte über seine neuen Erkenntnisse berichten. „Ich hatte den ZDF-Leuten gesagt: Bevor es nicht publiziert ist, bringt ihr das nicht! Und dann kommt es trotzdem in den Nachrichten. Und dann habe ich gesagt: Wie kann das sein? – „Wisst ihr denn nicht, dass das Paper abgelehnt ist“, wurde der Forscher von den ZDF-Journalisten gefragt. „Und das hat mich natürlich überrascht: Wie kann das sein, dass die Journalisten es vorher wissen als vor dem Autor, der es bei einem Journal eingereicht hat? Ja, woher habt ihr das denn? Ihre Antwort: Wir haben das von Monsanto, die wussten das.“
Deutschland ist für Monsanto ein Schlüsselmarkt
Während die Risikobewertung kaum Fortschritte macht, geht die Entwicklung von neuen Produkten mit Meilenschritten voran, erfahre ich in Saint Louis bei Monsanto: „Erst vor 13 Jahren gelang es, menschliche Genome zu entschlüsseln, damals kostete es 400 Millionen Dollar und es hat viele Jahre gedauert: Diese Maschine kann es in einigen Tagen schaffen und es würde nur 1.000 Dollar kosten.“
Mir wird erklärt, dies sei der beste Gen-Sequenzierer der Welt und auf Saatgut spezialisiert. Diese Maschine kann in nur einem Tag die Gen-Landkarte einer Pflanze schreiben. „Von der Entdeckung bis hin zur kommerziellen Nutzung dauert es aber noch weitere acht bis zehn Jahre und kostet weitere 100 Millionen Dollar. Was die kommerzielle Nutzung leider verzögert, sind die ganzen Tests.“
Kein Wunder, dass die Industrie mit den Füssen scharrt: Dank Innovation können sie immer schneller und billiger neue Produkte zur Marktreife entwickeln. Der Gesetzgeber, der die Gefährlichkeit zum Schutz ihrer Bürger einschätzen muss, hinkt immer mehr hinterher. Deutschland ist für die Produkte von Monsanto ein Schlüsselmarkt: Deutschland ist größter Importeur von Gensoja aus den USA, der zu 85 Prozent genetisch verändert ist. 4,6 Millionen Tonnen Sojaschrot werden jedes Jahr in Deutschland verfüttert.
Ich fahre nach Brüssel, um mit Beat Späth zu reden. Er ist der Direktor von BIO-Europe. Nahe dem Europaparlament finde ich sein Büro, eine schöne Büroetage in einem ansehnlichen Altbau. Späth fordert die Angleichung an die amerikanische Verfahrensweise und eine rein „wissenschaftlich basierte Zulassung“: „Die Risikobewertung wird mehr und mehr auch politisiert“, klagt Späth. „Das ist die Schuld der Politik, dass Risikokriterien erstellt werden, die einfach wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen sind.“
Wie eindeutig weiß man denn wirklich, wie sicher beispielsweise die Gentechnik ist? Und kann man es denn belegen? Die Antwort überrascht von jemandem, der rein wissenschaftlich fundierte Zulassung fordert: „Das ist natürlich sehr kompliziert, im Einzelnen allerdings läuft es für uns auf Vertrauen raus. Also vertraue ich Greenpeace oder den europäischen Akademien der Wissenschaften, vertraue ich EFSA oder der Europäischen Kommission? Und die sagen nämlich alle – bis auf Greenpeace –, dass nie erwiesen wurde, dass Gentechnik in irgendeiner Weise eine höhere Gefährdung hat als konventionelles Saatgut. Es gibt eine Bewegung von Wissenschaftlern, die natürlich krampfhaft versuchen, trotzdem was Unsicheres zu finden an der Technologie. Das ist ja der ‚goldene Gral‘ dieser ‚Anti-Technologie-Bewegung‘, dass sie eben sich Mythen aufgebaut haben, dass sie nicht sicher ist, und versuchen, es auch zu beweisen.“
„Der Regulatorische Rat ist brandgefährlich“
Beat Späth ist einer der zahlreichen Lobbyisten in Brüssel. In den letzten Jahren hat die EU große Anstrengungen unternommen, ihren Einfluss zurückzudrängen. Die wenigen Fortschritte könnten durch TTIP nun auf einen Schlag zunichte gemacht werden, das weiß besonders die Antilobby-Organisation Corporate Europe Observatory.
Dank der aufwendigen Recherchen der Politikwissenschaftlerin Pia Eberhardt wissen wir, dass in dem transatlantische Freihandelsabkommen eine neue permanente Lobby-Institution installiert wird: der Regulatorische Rat. Dieser Rat setzt sich aus amerikanischen und europäischen Handelsexperten und Rechtsanwälten zusammen, die jedes neue EU-Gesetz, bevor es verabschiedet wird, auf seine „Wirtschaftlichkeit“ überprüfen dürfen.
Damit wird der Industrie ein weitreichendes Mitspracherecht eingeräumt: Neben der wissenschaftlich basierten Regulierung, sieht Pia Eberhardt hier die größte Gefahr, die Parlamente einzuschränken: „Der Regulatorische Rat ist für mich tatsächlich eins von zwei Herzen und er ist brandgefährlich. Auf die Brisanz der regulatorischen Kooperation sind wir gestoßen über eine Informationsfreiheits-Anfrage an die Kommission, die wir gestellt haben. Auf die hat die Kommission geantwortet mit einem wirklichen Stapel von Papier, es war ein totales Chaos. In diesem Stapel von Papieren haben wir Positionspapiere gefunden von Business Europe und der US-Chamber of Commerce, in denen sie ganz klar sagen: ‚Wir möchten diese Verhandlungen nutzen, um Co-Gesetzgeber zu werden.‘ Sie benutzen tatsächlich dieses Wort!“
Das heißt: Selbst wenn durch langjährige Forschung wissenschaftlich bewiesen werden könnte, dass ein Stoff gefährlich ist, kann ein Verbot scheitern, wenn es nicht den Wirtschaftlichkeits-Kriterien des Regulatorischen Rats entspricht. Ist die EU-Kommission naiv, wenn sie so leichtfertig unsere Schutzmechanismen aufs Spiel setzt, will ich von Pia Eberhardt wissen. Ihre Antwort: „Ich glaube nicht, dass die EU-Verhandler naiv sind. Die wissen genau, was sie da tun! Sie haben das Interesse, Dienstleister zu sein für die europäischen Unternehmen. Das heißt eben auch, diesen Unternehmen mehr Macht zu geben, hier auf Gesetzgebungsprozesse einzuwirken und so ihre Interessen durchzusetzen.“
Eins ist mir inzwischen klar geworden: Die Spielregeln, wie wir mit wissenschaftlichen Ergebnissen bei der Risikoeinschätzung in Zukunft umgehen, werden sich mit dem transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP und CETA grundlegend ändern. Politik und Verbraucher werden es schwer haben, mit ihren Bedenken gegen die Deregulierungskette aus „wissenschaftlich basierter Regulierung“, „Investor-Schiedsgerichten“ und dem „Regulatorischen Rat“ anzukommen. Besonders dann, wenn ein Risiko sich nicht schnell und eindeutig beweisen lässt.
Erstaunlich, dass man das in Berlin anders sieht. Wie sagte Angela Merkel? „Und das ist die erste Botschaft: Das, was von der Europäischen Union an Standards vereinbart ist, das wird nicht abgesenkt.“