Putschpläne in Brüssel

 

Von Pit Wuhrer (13. Februar 2016)

Wird die EU-Kommission das Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) durchboxen, ohne die nationalen Parlamente mitentscheiden zu lassen? Vieles deutet darauf hin.

Ist es die Angst vor einem Scheitern? Die Furcht vor der Auseinandersetzung mit einer kritischen Bevölkerung? Oder die schiere Arroganz der Macht? Jedenfalls mehren sich die Indizien, dass die EU-Kommission dazu neigt, das Comprehensive Economic Trade Agreement (CETA) zwischen Kanada und den Staaten der Europäischen Union im Schnellverfahren durchzusetzen.

Seit September 2014, seit anderthalb Jahren also, ist das CETA-Abkommen ausverhandelt. Unterschrieben aber wurde es bisher nicht – dank des breiten Widerstands. Denn in CETA, das als Blaupause für das transatlantische Handelsabkommen TTIP gilt, ist all das enthalten, was die Freihandelsabkommen so umstritten macht: Absenkung der (zumeist erkämpften) Standards beim Verbraucherschutz, im Umweltbereich und in der Arbeitswelt; ein lockerer Umgang mit persönlichen Daten; die Übernahme von sehr rudimentären Regeln bei der Zulassung gesundheitsgefährdender Stoffe; die Beschneidung staatlicher Kompetenzen und die schrittweise Privatisierung öffentlicher Dienste.

Dazu kommt, dass CETA die private Schiedsgerichtsbarkeit bei Investitionsstreitigkeiten (ISDS) vorsieht: Grossunternehmen können Staaten vor einem geheim tagenden Schiedsgericht auf Schadensersatz verklagen, wenn sie ihre Profiterwartung durch staatliche Massnahmen – etwa beim Umweltschutz – gefährdet sehen. Diese Schiedsgerichte bestehen aus drei Anwälten internationaler Kanzleien; ihr Urteil ist nicht anfechtbar.

Vor allem das ISDS-System hat in den letzten Monaten viel Kritik hervorgerufen. Allein schon die Androhung einer Klage, so befürchten viele, könne dazu führen, dass Kommunen, Länder oder der Bund vor Massnahmen zurückschrecken, die zum Schutz der Bevölkerung ergriffen werden müssten.

Ein Referendum in den Niederlanden?

Der breite Protest gegen diese Sonderrechte für Konzerne hat den SPD-Vorsitzenden, Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, und die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström umschwenken lassen: Sie favorisieren bei TTIP mittlerweile ein internationales Investitionsgerichtssystem (ICS), das zwar dem gleichen Zweck dient, aber immerhin mit ordentlichen RichterInnen besetzt ist. Und bei CETA? Da werde man vielleicht nachbessern, so heisst es – vorausgesetzt, die neue kanadische Regierung ist dazu bereit.

Einen Termin für diese Nachverhandlung gibt es jedoch nicht. Trotzdem plant die EU-Kommission nun eine zügige Verabschiedung des Abkommens mit Kanada. Und zwar, darauf deutet vieles hin, unter Umgehung der nationalen Parlamente. Das ist durchaus möglich: Seit dem Vertrag von Lissabon (2009) ist allein die EU-Kommission für Handelsfragen zuständig. Die gewählten Gremien der EU-Staaten sind nur dann zustimmungsberechtigt, wenn ein Vertrag auch die Belange der Einzelstaaten tangiert. Sollte das nicht der Fall sein, gilt das Prinzip „EU only“. Und das heisst: Entscheidungsberechtigt sind allein die EU-Kommission, der Ministerrat (bestehend aus den Staats- und Regierungschefs beziehungsweise deren MinisterInnen) und das EU-Parlament.

Offenbar hat die EU-Kommission die letzten anderthalb Jahre genutzt, um ihre Interpretation („EU only“) abzustützen. Und so ist es durchaus denkbar, dass sie möglicherweise schon im Frühsommer, wahrscheinlich aber im Herbst dem Ministerrat und danach dem EU-Parlament CETA vorlegt. In diesem Fall hätte weder der Bundestag noch der Bundesrat ein Wort mitzureden.

Dass Malmström dieses handstreichartige Vorgehen bevorzugt, hat handfeste Gründe: Die Opposition wächst. Nicht nur in Deutschland, Österreich, Luxemburg und Slowenien ist mittlerweile (laut EU-offiziellen Angaben) eine Mehrheit der Bevölkerung gegen TTIP und CETA. Auch anderswo regt sich Widerstand. In den Niederlanden zum Beispiel wollen FreihandelskritikerInnen ein Referendum gegen CETA lancieren, sollte sich die Regierung dafür entscheiden. Die Chancen, dass sie einen Volksentscheid gewinnen, stehen nicht schlecht.

Aber was tun, wenn die EU-Kommission mit ihrer „EU only“-Taktik die nationalen Proteste zu unterlaufen versucht? Die Kampagnenplattform campact.de hat inzwischen eine Unterschriftensammlung gegen CETA initiiert. Ziel der Aktion: Die Bundestagsabgeordneten dazu zu bringen, der Regierung nur dann ein Votum zu CETA zu erlauben, wenn die Parlamente mitentscheiden dürfen.

Breite Fronten

Noch also hat sich die Kommission nicht durchgesetzt. Entscheidend ist, dass der Druck von unten anhält. Und er kommt ja mittlerweile aus allen Ecken. So hat zum Beispiel der Deutsche Richterbund Anfang Februar nicht nur ISDS, sondern auch Gabriels Vorhaben eines Investitionsgerichts öffentlich abgewatscht. Die „Schaffung von Sondergerichten für einzelne Gruppen von Rechtssuchenden ist der falsche Weg“, befand der mit Abstand grösste Berufsverband von RichterInnen und StaatsanwältInnen; dafür gebe es „weder eine Rechtsgrundlage noch eine Notwendigkeit“.

Selbst die „Süddeutsche Zeitung“ kam am 6. Februar in einem ansonsten sehr freihandelsfreundlichen Kommentar zum Schluss, dass inzwischen „zahlreiche Beobachter die Chancen für einen [TTIP-] Deal nur noch auf 50 zu 50“ schätzen: Die Öffentlichkeit sei „ausgerechnet in der Exportnation Deutschland (…) einer geschickten Kampagne gegen TTIP erlegen“. Schon vor dem Richterbund hatten sich der Deutsche Kulturrat, der Städtetag, die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, die Gewerkschaften, zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen (von attac über den BUND, Greenpeace, Mehr Demokratie bis hin zum Paritätischen Wohlfahrtsverband) und die Gemeinderäte von Singen, Konstanz, Allensbach sowie der Kreistag gegen TTIP und CETA ausgesprochen. Alles Opfer einer „geschickten Kampagne“?

Widerstand gibt es nicht nur hierzulande. Auch die Unterzeichnung des Transpazifischen Freihandelsabkommen TPP am vergangenen Wochenende in Auckland (Neuseeland) hat die Proteste dort nicht verstummen lassen. TPP, das zwölf Staaten umfasst (darunter die USA, Kanada, Mexiko, Japan, Peru, Chile, Vietnam und Australien), soll eine Freihandelszone begründen, in der vierzig Prozent des Weltsozialprodukts erwirtschaftet wird. Es sieht das ISDS-System vor, sichert US-Pharmakonzernen neue Monopolrechte, erlaubt den Handel mit unsicheren Lebensmitteln und begünstigt Lohndumping, wie Gewerkschaften und zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen kritisieren.

TPP ähnelt mithin den transatlantischen Abkommen TTIP und CETA. Im Unterschied zu den aktuellen EU-Plänen wird es aber nicht im Hauruck-Verfahren durchgezogen. Zwei Jahre haben die Parlamente der TPP-Staaten Zeit, um das Abkommen zu ratifizieren – und energische Gegenwehr ist angekündigt. So pochen etwa Vertreter der neuseeländischen Maori-Gemeinschaft auf das ihnen bei der Unabhängigkeit Neuseelands vertraglich zugesicherte Mitspracherecht in Handelsfragen und haben bei der Regierung interveniert. In vielen Städten der TPP-Vertragsstaaten kam es zu Kundgebungen und Demonstrationen. Und selbst in den USA ist nicht sicher, ob das Projekt das Ende von Barack Obamas Amtszeit überlebt.

Redeverbot nach TTIP-Lektüre

Dass die EU-Kommission bei CETA nun offenbar über dirigistische Massnahmen nachdenkt, ist auch ein Zeichen von Schwäche. Sie hatte CETA und TTIP als Geheimsache angepackt, die Konzernlobbys an den Tisch gebeten, die Zivilgesellschaft ausgesperrt – und als das nicht länger hingenommen wurde, ein paar Zuckerstücke hingestreut und beschwichtigt. Das Dumme nur: Wer glaubt ihr noch, wenn sie jetzt Besserung verspricht? Und wenn sie, wie seit zwei Wochen, die grosse Transparenz verspricht, Bundestagsabgeordneten zwei Stunden lang Einsicht in die Dokumente gewährt, jedoch keine Notizen erlaubt und ihnen verbietet, hinterher darüber zu sprechen? Es ist ein Witz. Manche Abgeordnete, die den TTIP-Leseraum betreten haben, trauen sich nicht einmal mehr, das auszusprechen, was sie vorher schon wussten – weil ihnen jetzt Geheimnisverrat vorgeworfen werden könnte.

„Ein Erfolg für die Abgeordneten“ nannte Sigmar Gabriel die Einrichtung des Leseraums im Bundeswirtschaftsministerium. Offenheit sei wichtig, um Akzeptanz „für ein modernes Abkommen zu schaffen“. Und er fügte hinzu: „Schliesslich müssen am Ende Bundestag und Bundesrat dem Abkommen zustimmen.“ Was für TTIP gilt, soll für CETA nicht mehr in Betracht kommen? Der Deutsche Kulturrat hat mittlerweile das Bundeswirtschaftsministerium zu einer Stellungnahme aufgefordert. Eine Antwort steht noch aus.