Neue TTIP-Dokumente: Wie wir getäuscht werden

Allmählich wird die Luft für die EU-Kommission (und Sigmar Gabriel) ziemlich dünn. Denn die Greenpeace-Leaks zeigen: Das, was wir seit langem sagen, stimmt. Und wer bisher behauptete, dass unsere Standards nicht angetastet werden, hat gelogen.

In ihrer Ausgabe von Montag, 2. Mai, beschreibt die Süddeutsche Zeitung in mehreren Beiträgen die Ziele der US-Regierung, die Vertuschungsversuche der EU-Kommission und was auf uns alles zukommen könnte.

TTIP – Amerika macht Druck wie nie

  • Europas Autohersteller hoffen auf TTIP. Die US-Seite nutzt das, um die europäischen Unterhändler beim Thema Landwirtschaft unter Druck zu setzen.
  • US-Konzerne hoffen, künftig mehr Produkte nach Europa verkaufen zu können – darunter auch genmanipulierte Waren.

Von Alexander Hagelüken und Alexander Mühlauer, Brüssel

Der schwäbische EU-Parlamentarier Markus Ferber sitzt am Brüsseler Flughafen, wo die Wartezeiten seit den Terroranschlägen im März lang geworden sind. Ferber stöhnt über die Verzögerung. Bei dem Verkehrsmittel, über das er gerade so engagiert am Mobiltelefon redet, handelt es sich aber nicht um Flugzeuge. Der CSU-Mann spricht über Autos. Pkw und Autoteile sind für den Handel mit den USA enorm wichtig. Die EU-Hersteller exportierten 2015 eine Million Autos. Auf die Branche entfällt ein sattes Viertel aller Güterexporte in die Vereinigten Staaten.

Deshalb setzt Ferber genau wie die europäischen Hersteller in diesem Bereich große Hoffnungen in TTIP. Die EU-Kommission rechnet vor: Fallen durch das Abkommen Zölle auf Autos oder Laster und zusätzlich ein Viertel der übrigen Handelshemmnisse für die Branche weg, können die Hersteller in den nächsten zehn Jahren 150 Prozent mehr exportieren. Das ist die Art positiver Effekte, die US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel meinten, als sie auf der Hannover-Messe von TTIP schwärmten – und einen Abschluss in diesem Jahr anpeilten. Die Frage ist, was von diesen Träumen übrig bleibt.

Die vertraulichen Verhandlungsdokumente offenbaren, wie sich die US-Regierung taktisch geschickt Europas Autohersteller vorknöpft. Washington nimmt die Hoffnungen der Branche als Faustpfand – damit die Europäer einlenken, Zölle auf Agrarprodukte zu senken und mehr Lebensmittel made in the USA zu kaufen.

„Die USA haben bei mehreren Gelegenheiten signalisiert, dass sie eine völlige Streichung der Autozölle anbieten“, notiert die EU-Kommission in einer internen Analyse der Verhandlungen von Ende 2015. „Allerdings haben sie auch unterstrichen, dass sie sich das für das Finale der Verhandlungen aufheben.“ So bauen die Amerikaner Druck auf, um die Europäer am Ende womöglich zu mehr Zugeständnissen zu bewegen, als für sie unterm Strich gut ist.

So lange die Amerikaner Exporterleichterungen für die EU-Autobranche blockieren, besteht ein Ungleichgewicht zwischen beiden Seiten. In ihrer internen Analyse notiert die EU-Kommission: „Der Wert des Handelsvolumens (das von Liberalisierungen betroffen ist, Anm. der Red) ist noch ungleich und wird ungleich bleiben, bis die USA sich zu Zollstreichungen für motorisierte Fahrzeuge verpflichten.“ Die Unterschiede sind groß: Wenn die USA bei den Autos weiter blockieren, hätte Europa zum Start des Abkommens Erleichterungen für volle 92 Prozent des Werts der US-Güterexporte zugestimmt – die USA umgekehrt aber nur für 78 Prozent der europäischen Exporte. Das wäre für Europa schlecht.

 

Die Frage ist, wie weit die EU dem amerikanischen Drängen nachgibt.

Die 500 Millionen Bürger haben von diesen Vorgängen bisher nichts erfahren. Zwar veröffentlichte die EU-Kommission ein Protokoll der Verhandlungsrunde Ende Februar. Aber wie die Enthüllung von SZ, WDR und NDR nach den von Greenpeace übermittelten Dokumenten zeigt, fehlen in der öffentlichen Fassung mehrere heikle Punkte, die Unterschiede zwischen USA und EU offenlegen. So findet sich im Originaldokument ein Satz, der die amerikanische Drohkulisse offenbart: Die USA „beeilten sich klarzumachen, dass Fortschritt bei Autoteilen nur möglich wäre, wenn die EU sich bei Zöllen auf Agrarprodukte bewegt“. In der frisierten Fassung auf der Website der Kommission fehlt dieser Satz. „Das Misstrauen der deutschen Maschinenbauer ist zu recht groß“, sagt der EU-Abgeordnete Reinhard Bütikofer von den Grünen. Es drohe die Gefahr, dass angesichts des Verhandlungszeitdrucks Kapitel gesäubert würden und vor allem mittelständische Unternehmen in Europa das Nachsehen hätten.

Das amerikanische Drängen bei den Agrarprodukten ist durchaus nachvollziehbar. Die Regierung steht seit Jahren unter dem Druck der Lobby. Großbauern bilden in manchen Regionen des riesigen Landes einen wichtigen Teil der Wirtschaft. Und besonders der Wählerschaft. Für die Agrarier ist es völlig unverständlich, dass sie zwar industriellere Strukturen in der Landwirtschaft haben und deshalb vielfach billiger produzieren können als die Europäer – aber unterm Strich weniger Agrarprodukte nach Europa verkaufen als umgekehrt: Das Handelsdefizit beträgt mehr als fünf Milliarden Euro im Jahr.

US-Unternehmen wollen endlich Genfood nach Europa verkaufen

Die Frage ist, wie weit die EU gehen will, um dem amerikanischen Drängen nachzugeben. Denn die USA wollen ja nicht einfach nur mehr Agrargüter exportieren. Es geht ihnen auch um kontroverse Produkte wie Genfood, die in Europa weitgehend untersagt, in Amerika aber Standard sind – und die US-Konzerne deshalb nach Europa verkaufen wollen. Dabei ist der europäische Verbraucherschutz, der Produkte wie Genfood vorsorglich verbietet, ein Hindernis. Das ist Stoff für Streit: Die Amerikaner attackieren die europäische Praxis, Brüssel hält dagegen. „Die Amerikaner versuchen das seit 20 Jahren“, erklärt ein EU-Vertreter und verspricht: „Das europäische System mit dem Vorsorgeprinzip steht nicht zur Disposition.“

Klar ist: Mit den Erleichterungen für Autoexporte steht für die Europäer viel auf dem Spiel. Noch wichtiger als Zollsenkungen sind dabei teils andere Handelshemmnisse – etwa, dass Autos für beide Seiten des Atlantiks bisher unterschiedlich produziert und zugelassen werden müssen. „Bei Crashtests fahren die Autos in den USA und Europa mit unterschiedlichem Tempo und Aufprallwinkel auf unterschiedliche Hindernisse zu“, weiß der Abgeordnete Ferber. „Es ist teuer, das zwei Mal zu machen. Die Limousinen sind nachher jedes Mal total kaputt.“ Wenn solche Handelshemmnisse fielen, würde Europa stark profitieren. Erleichterungen für die Autoindustrie würden insgesamt ein volles Drittel des gesamten zusätzlichen Handelsvolumens ausmachen, das ein TTIP-Abschluss bringen soll.

Die Auto-Agrar-Kombination, die die geheimen Dokumente offenlegen, wirft also eine große Frage auf: Welche Zugeständnisse wird Europa an anderer Stelle machen, um sich die Vorteile für die Autobranche nicht entgehen zu lassen? Ein EU-Vertreter driftet ins Ungefähre: „In dieser Phase der Verhandlungen gibt es noch keine Gegengeschäfte.“ Das Taktieren vor dem geplanten Endspiel der Verhandlungen im Herbst, wenn die großen politischen Fragen gelöst werden sollen, ist bei solchen Abkommen normal. „Jeder wird versuchen, möglichst viel Verhandlungsmasse aufzubauen“, sagt Matthias Machnig, zuständiger Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. „Das ist Taktik.“

 

Aus den geheimen Dokumenten können Bürger in den USA und Europa jetzt erstmals erfahren, worum bei TTIP im Detail gerungen wird wie auf einem Basar. So greifen die Amerikaner beispielsweise europäische Vorbehalte gegen eine Liberalisierung aller Chemieexporte an: „Die USA stellten einige der Sensibilitäten der EU bei bestimmten chemischen Produkten infrage“, heißt es in einem Dokument, und weiter: „Die EU zeigte sich absolut unflexibel und wies darauf hin, dass es sich hier nur um 35 bis 40 der insgesamt mehr als 1100 Chemiezölle handle. Die USA erklärten dennoch, sie müssten mit ihrer chemischen Industrie beraten, ob sie von ihrem bisherigen Angebot abweiche.“

Das große Feilschen ist eröffnet. Es ist ein Pokerspiel um Wachstum und Wohlstand. Als die EU in den Verhandlungen auf ihre Chemievorbehalte angesprochen wird, kontert sie, die USA schränkten den Export von Erdgas ein, das Europa gerne hätte. Autos gegen Lebensmittel, Chemie gegen Erdgas, Erdgas gegen Dienstleistungen, Daten gegen Telekomprodukte – die nächsten Monate werden spannend. Dank der Enthüllung sitzen die 800 Millionen Menschen, die TTIP betreffen wird, jetzt als Zuschauer in der ersten Reihe.

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