Können nach dem Greenpeace-Leak PolitikerInnen noch behaupten, dass keine Standards gesenkt werden? Ein Kommentator der Wochenzeitung Zeit ist da skeptisch.
Seit Monaten hämmert Bundeskanzlerin Angela Merkel in Sachen TTIP immer wieder einen Satz in die Mikrofone der Welt: „Zu den Tatsachen des Freihandelsabkommens mit den Vereinigten Staaten gehört, dass eben kein Standard, den es heute in der Europäischen Union gibt, abgesenkt wird.“ Durch ständiges Wiederholen soll bestenfalls noch im letzten deutschen Wohnzimmer ankommen: Macht euch keine Sorgen!
Wie unmöglich der Satz mittlerweile scheint, offenbaren nicht zuletzt die von der Umweltschutzorganisation Greenpeace veröffentlichten geheimen Verhandlungspapiere der TTIP-Verhandlungen. Doch schon lange ist klar: Damit Merkels Mantra wahr sein kann, müssten zwei Verbraucherschutz- und auch Rechtssysteme harmonisiert werden, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Die spannendste Frage, die deshalb über TTIP schwebt, ist: Was kann überhaupt harmonisiert werden, beziehungsweise was ist verhandelbar? Wenn wirklich alle Bereiche des transatlantischen Handels auf dem TTIP-Tisch liegen würden und zugleich wirklich kein EU-Standard gesenkt würde, müssten die Amerikaner ihr System komplett aufgeben. Weil das aber nicht geschehen wird, müssten zwangsläufig viele Bereiche bei den Verhandlungen schlicht ausgeklammert werden. Denn auch die Europäer haben ihre roten Linien, die sie nicht überschreiten wollen.
Es droht eine „Abwärtsharmonisierung“
Verbraucherschützer wie der Vorstand des Bundesverbands der deutschen Verbraucherzentralen, Klaus Müller, fordern deshalb ein „TTIP light“ – ein Abkommen, das auf „das Machbare beschränkt werden muss“. Machbar, das wären demnach eben jene Bereiche, bei denen keine der Parteien die eigenen Standards senken müsste, um eine Einigung zu erzielen. Die gerne angeführten unterschiedlichen Farben für die Blinklichter von Autos – in den USA dürfen sie auch rot sein, in Europa nur orange – wären solch ein Bereich. In den USA sehen Verbraucherorganisationen das geplante Abkommen mittlerweile kritischer als noch vor ein paar Wochen. Die Gewerkschaften, welche sich einst die besseren europäischen Arbeitsschutzstandards versprachen, reagieren ernüchtert und unterstützen inzwischen den Anti-TTIP-Protest. Melinda St. Louis, Kampagnen-Chefin der NGO Global Trade Watch, spricht von einer drohenden „Abwärtsharmonisierung“, bei der die Menschen sowohl in der Europäischen Union als auch in den Vereinigten Staaten bereits erreichte Schutzstandards verlieren könnten.
Vieles bleibt aufgrund der mangelhaften Transparenz bei TTIP unklar. Selbst Befürworter des Abkommens, wie der Bundesverband der Deutschen Industrie, sprechen sich für modernere, nachvollziehbarere Verhandlungen aus. Die Angst auf beiden Seiten des Atlantiks wächst: Während die Amerikaner beispielsweise ihre Banken strenger regulieren und die laxeren EU-Regeln fürchten, wollen die Europäer kein Fleisch von Tieren importieren müssen, die in den USA mit Wachstumsbeschleunigern behandelt wurden. Doch wo verlaufen die roten Linien der jeweiligen Seite? Für die Verbraucher könnte die erstrebenswerteste Lösung lauten: In jedem Bereich wird der jeweils bessere Standard des anderen übernommen. So könnten die europäischen Verbraucher von den strengeren amerikanischen Standards bei Medizinprodukten profitieren. Skandale wie im Fall geplatzter Brustimplantate wie in Frankreich könnten dadurch verhindert werden. Die USA wiederum könnten die deutlich strengeren Kosmetik-Vorschriften der Europäer übernehmen. Mehr als 1.300 Substanzen sind hierzulande verboten, in den USA lediglich elf.
Die besten Standards für alle
Zwei Wirtschaftsräume, in denen der Schutz von Verbrauchern, Umwelt und von Arbeitnehmerrechten eine inzwischen viele Jahrzehnte lange Tradition hat, könnten ihre jeweils zum Teil hart erkämpften Errungenschaften kombinieren – eine Jahrhundert-Chance. Längst gibt es Bereiche, in denen es global hohe und einheitliche Standards gibt. Beim Bau von Flugzeugen zum Beispiel müssen übereinstimmende Sicherheitsvorschriften gelten, schlicht aus dem Grund, weil sie weltweit starten und landen können müssen. Das klappt übrigens ganz ohne TTIP. Längst arbeiten ja europäische und amerikanische Regulierungsbehörden zusammen und gleichen ihre Standards an. Doch nicht immer ist so klar, welcher Standard der bessere ist. So lehnen die Europäer gentechnisch veränderte Lebensmittel nahezu gänzlich ab. Die Amerikaner erlauben sie. Bislang konnte wissenschaftlich nicht eindeutig bewiesen werden, dass gentechnisch veränderte Lebensmittel direkt gesundheitlich schädlich sind. Die Sicherheit, dass sie definitiv unschädlich sind, gibt es allerdings ebenfalls nicht. So bleibt die Gentechnikfrage letztlich eine politische. Aber ist sie deshalb verhandelbar?
Die EU reguliert streng, die USA bestrafen hart
Aber nicht nur fehlende wissenschaftliche Erkenntnisse machen Probleme. Eine weitere grundsätzliche Schwierigkeit bei der Harmonisierung von Verbraucher- oder Umweltschutzstandards besteht darin, dass in der EU das sogenannte Vorsorgeprinzip gilt, die Amerikaner setzen auf Nachsorge. Konkret bedeutet das: Produkte dürfen in der EU prinzipiell nur dann verkauft werden, wenn sichergestellt ist, dass sie zum Beispiel nicht gesundheitsschädlich sind. Dazu testen, prüfen und zertifizieren zuständige Regulierungsbehörden. Das kann mitunter recht lange dauern. Die Unternehmen profitieren aber im Zweifel davon, sich auf entsprechende Grenzwerte etwa von Schadstoffmengen berufen zu können, die sie eingehalten haben. In den USA müssen Unternehmen für ihre Waren vorab deutlich weniger Zulassungshürden nehmen. Ein Produkt kann nur dann verboten werden, wenn eine staatliche Behörde eindeutig beweisen kann, dass es beispielsweise gesundheits- oder umweltschädlich ist.
Das bedeutet allerdings nicht, dass das amerikanische System generell schlechter schützt. Unternehmen müssen dort jederzeit mit Schadensersatzklagen in Millionenhöhe rechnen. Sie bemühen sich deshalb oft schon aus wirtschaftlichem Eigeninteresse heraus, ihre Produkte sicher zu machen. Klar ist dennoch: In den USA hat der einzelne Konsument die Verantwortung. Er muss sich sein Recht im Zweifel teuer erstreiten. Ob er am Ende gewinnt, kann er vorher nicht wissen. Diese beiden Systeme lassen sich kaum kombinieren, ohne dass eine Seite die ureigene Mentalität aufgibt. Dennoch äußerte sich EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström nach dem Greenpeace-Leak ganz ähnlich wie sonst Merkel: „Kein EU-Handelsabkommen wird das Schutzniveau für Verbraucher und Umwelt oder bei der Lebensmittelsicherheit absenken.“
Was bleibt übrig, wenn Merkel recht behalten will?
Aber welche Bereiche sind dann überhaupt verhandelbar? Was die deutsch-europäische Wiederholungsphalanx von Merkel bis Malmström gerne verschweigt: TTIP soll nicht in erster Linie den Verbraucherschutz auf beiden Seiten des Atlantiks verbessern, sondern den Warenverkehr vereinfachen, den Profit von Unternehmen steigern. Die Kritiker sprechen vom „Primat der Wirtschaft“, von einem demokratisch nicht legitimierten Vorgehen besonders in Bezug auf nicht transparente Schiedsgerichte. Befürworter hingegen führen den Wirtschaftsraum der EU als positives Beispiel an. Eine Erfolgsgeschichte für den Verbraucherschutz? Auch in Europa zeigt sich regelmäßig: Harmonisierung bedeutet im Zweifel Kompromiss, bei dem ein Partner seine Standards senken muss. So herrschten in Deutschland strengere Regeln für den Verkauf von Baumaterialien als von der EU vorgesehen. Der Europäische Gerichtshof kassierte die deutsche Regelung als nicht zulässig. Sowohl die Verbraucher als auch die deutschen Produzenten, die mit den höheren Standards Wettbewerbsvorteile hatten, haben damit letztlich das Nachsehen. Auch die Industrie könnte also ein Interesse daran haben, TTIP zu verhindern. Doch offenbar überwiegen die profitablen Vorteile.
Vielleicht soll Merkels Satz vom Nicht-Senken der Standards davon ablenken, dass es künftig schwieriger wird, Standards überhaupt noch verbessern zu können. Verbraucherorganisationen wie Greenpeace kritisieren, dass schon seit längerer Zeit ein sogenannter regulatory chilleingetreten sei. Darunter sei zu verstehen, dass die EU-Kommission schon jetzt darauf verzichte, beispielsweise anstehende Verschärfungen bei der Zulassung von Chemikalien durchzusetzen. Der Grund sei, keine neuen roten Linien zu ziehen, welche die TTIP-Verhandlungen zusätzlich erschweren könnten. Diese Beobachtungen passen gut zum Merkel-Malmström-Mantra, welches nur in Aussicht stellt, dass keine Standards gesenkt würden. Darüber, dass selbst die angeblich so hohen EU-Standards in vielen Bereichen wie etwa den Pestizid-Zulassungen stark verbesserungswürdig sind, verlieren die Befürworter von TTIP kaum Worte.
Momentan scheint es so, als könnte Merkels Satz von den nicht sinkenden Standards allenfalls dann noch wahr werden, wenn weite Bereiche gar nicht erst verhandelt würden, schlicht weil sie nicht verhandelbar sind. Aber was bleibt dann von TTIP? Um die Kritiker zumindest halbwegs zu beruhigen, müsste die Kanzlerin ohnehin viel mehr versprechen. Sie müsste dafür einstehen, dass jeder Standard, den es heute in der Europäischen Union gibt, nicht nur nicht gesenkt, sondern auch künftig überprüft, ständig erweitert und im Zweifel verbessert wird. Dann würde TTIP zu etwas, was es aber nicht ist: ein europäisch-amerikanisches Verbraucherschutzabkommen.