Über die Verfassungsbeschwerde gegen CETA schreibt die Süddeutsche Zeitung am 31. August Folgendes:
Es sei „die größte Bürgerklage“ aller Zeiten, sagen die Organisatoren. Doch das umstrittene Freihandelsabkommen könnte an ganz anderer Stelle scheitern.
Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe
Die Olympischen Sommerspiele sind vorbei, aber das olympische Prinzip hat nun sogar das von Superlativen bisher weitgehend verschonte Feld der Verfassungsklagen erreicht. An diesem Mittwoch wird ein Transporter vor dem Bundesverfassungsgericht vorfahren, beladen mit 125 000 Vollmachten für die größte Bürgerklage aller Zeiten, wie die Organisatoren Campact, Foodwatch und Mehr Demokratie werben.
Es ist die nun dritte Verfassungsbeschwerde gegen das Freihandelsabkommen Ceta; Autor ist der Kölner Professor Bernhard Kempen. Anhängig sind bereits eine Klage von Linkenpolitikern (geschrieben von Andreas Fischer-Lescano, Uni Bremen) sowie eine von 68 000 Bürgern unterstützte Massenbeschwerde (von Andreas Fisahn, Uni Bielefeld). Gälte in Karlsruhe das Prinzip „Viel hilft viel“, dann hätten sie schon gewonnen.
So ist es aber nicht: Den acht Richtern des Zweiten Senats würde ein einziger Kläger reichen, um Ceta zu stoppen. Wenn die Argumente gut sind.
Im Zentrum der Klagen steht das „Investitionsgericht“. Das ist etwas kurios, weil es erst auf Druck von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ins Abkommen aufgenommen wurde – als Ersatz für die Schiedsgerichte, die Kritiker als eine einseitig auf Investoreninteressen gerichtete Privatgerichtsbarkeit sahen. Diese Kritik war zwar nicht ganz falsch.
Nur ist, wenn man die Klageschriften liest, mit einem ständigen Investitionsgericht wenig gewonnen. Denn es sei ebenfalls darauf ausgerichtet, „Investoren bevorzugt zu behandeln“, schreibt Kempen. In der Ceta-Präambel stehe, „dass die Bestimmungen dieses Abkommens Investitionen sowie Investoren in Bezug auf ihre Investitionen schützen und eine beiderseitig vorteilhafte Wirtschaftstätigkeit fördern sollen“.
Druck milliardenschwerer Schadenersatzklagen
Der Schutz der Unternehmen vor staatlicher Regulierung ist also in der DNA solcher Gerichte angelegt, egal, wie man sie nennt und ausgestaltet. Die Sorge der Kläger ist erstens, dass eine solche „Paralleljustiz“ im Zweifel eher dazu neigt, Eigentumsbelange von Investoren zu schützen als öffentliche Belange, wie Gesundheitsvorsorge oder Umweltschutz zu würdigen.
Und zweitens: Unter dem „Damoklesschwert“ milliardenschwerer Schadenersatzklagen könnte der deutsche Gesetzgeber sich genötigt sehen, die Finger von investorenfeindlichen Regulierungen zu lassen. Das rühre ans Herz der Demokratie, meint Kempen: „Insofern ist die demokratische Selbstregierung des Volkes dauerhaft und spürbar eingeschränkt.“
Ceta könnte an ganz anderer Stelle scheitern
Das sind sehr nachvollziehbare Argumente – aber womöglich taugen sie nur für die politische Diskussion über das Für und Wider des Freihandels. Ob sie auch verfassungsrechtlich durchschlagen, ist zweifelhaft. Zwar hat sich Karlsruhe eine Letztkontrolle für EU-Maßnahmen vorbehalten, sofern sie die „Verfassungsidentität“ verletzen. Dazu gehört ohne Zweifel auch das Demokratieprinzip. Allerdings liegt die Hürde für eine solche Letztkontrolle sehr hoch. Ob das Gericht die Demokratie bereits durch eine denkbare Einschüchterung des Bundestags gefährdet sieht, erscheint fraglich.
Allerdings könnte Ceta an einer ganz anderen, bisher nicht so stark beachteten Stelle scheitern. Das wichtigste Gremium, das mit dem Ceta-Abkommen geschaffen werden soll, ist der sogenannte Gemischte Ausschuss, besetzt mit Vertretern aus Kanada und der EU. Er ist das zentrale Steuerungsorgan von Ceta, aber nicht nur dies: Er kann das Abkommen auch weiterentwickeln.
Denn der Gemischte Ausschuss darf Annexe und Protokolle des Vertrags ändern: Er darf Befreiungstatbestände bei Einfuhrzöllen beschließen, er kann den Investitionsschutz beim geistigen Eigentum ergänzen, er kann die Liste geschützter Herkunftsbezeichnungen erweitern oder reduzieren. Zudem gibt er vor, wie die oftmals vagen Formulierungen zum Investitionsschutz zu interpretieren sind – das Ceta-Gericht hinge dann sozusagen an seinen Lippen, um davon abzulesen, wie viel Gewicht der Unternehmensschutz erhalten soll. Kurzum: Der Ausschuss kann Ceta ein neues Gesicht geben. Ein Gesicht, das auch eine hässliche Fratze sein könnte.
Mitgliedsstaaten sind die Herren der Verträge
Das Problem: In dem Ausschuss sitzen keine Vertreter der EU-Mitgliedsstaaten. Und die EU hat auch sonst nicht sichergestellt, dass der Ausschuss nicht ein munteres Eigenleben beginnt und Ceta Schritt für Schritt umgestaltet – im schlimmsten Fall zu einem dann wirklich einseitig nur auf Firmeninteressen ausgerichteten Gebilde. Mit dieser großzügigen Delegation von Befugnissen könnte die EU außerhalb ihrer Zuständigkeiten gehandelt haben – „ultra vires“, wie dies in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heißt.
Denn aus Karlsruher Sicht darf die EU keine Zuständigkeiten auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen, wenn sie dort klammheimlich ausgedehnt werden können. Grund dafür ist, dass die EU nach dem Prinzip der „begrenzten Einzelermächtigung“ funktioniert: Die Herren der Verträge sind die Mitgliedstaaten – das demokratische Band zu ihren Bürgern darf nicht zerschnitten werden.
Letztlich hat das Gericht diese Lesart im Urteil zum Lissabon-Vertrag festgeschrieben. Sollte es damit ernst machen, dann hätte dies ernste Konsequenzen: Das Gericht müsste der Bundesregierung untersagen, dem Ceta-Abkommen am 18. Oktober im Europäischen Rat zuzustimmen.