Während wir alle noch auf Belgien (und insbesondere Wallonien) hoffen, gibt es längst Pläne, CETA am wallonischen Widerstand vorbei durchzusetzen. Das beschreibt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 26. Oktober recht eindrücklich. Und die Lehre daraus? Wir dürfen nicht nur auf andere setzen, sondern müssen selber aktiv bleiben, also den EU-Abgeordneten schreiben oder die Volksinitiativen in Bayern, Schleswig-Holstein oder Österreich unterstützen. Hier der Text:
Es gibt zwei Lösungsansätze, erstens: Belgien bleibt draußen, kann gegebenenfalls irgendwann später beitreten. Zweitens: Das bisher als ein gemischtes Abkommen behandelte Ceta-Abkommen wird entmischt; aus einem Vertrag werden also zwei Verträge.
Von Heribert Prantl
Manche Tiere haben eine Fähigkeit, die die Europäische Union jetzt brauchen könnte: die Fähigkeit, bei Gefahr einen Körperteil abzuwerfen. „Autotomie“ heißt das in der Wissenschaft, übersetzt „Selbst-Schneidung“. Allgemein bekannt ist so etwas von den Eidechsen: Sie können ihren Schwanz abwerfen, der dann, oft freilich nur in verkürzter Form, wieder nachwächst. Das ist ziemlich schlau von den Eidechsen. Der abgeworfene Schwanz zuckt noch einige Zeit, lenkt so die Aufmerksamkeit des Fressfeindes auf sich – und die Rumpf-Eidechse kann sich in Sicherheit bringen.
Nun ist Europa weder eine Eidechse, noch eine Seegurke, Harfenschnecke oder eine Stachelmaus, die allesamt in verschiedener Form über die Fähigkeit zur Selbst-Schneidung gebieten. Es ist auch nicht so, dass sich Europa vor einem Fressfeind in Sicherheit bringen müsste. Aber die Methode des rettenden Zerlegens lässt sich juristisch nutzen, wenn die EU den Ceta-Vertrag noch auf irgendeine Weise in Kraft setzen und so den internationalen Gesichtsverlust einigermaßen gering halten will – nach langen Verhandlungen, nach komplizierten Nachverhandlungen sowie einem für den Ceta-Vertrag positiven Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts.
Möglichkeit eins: den Ceta-Vertrag ohne Belgien verabschieden
Um den Ceta-Vertrag, das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada, aus der Blockade durch die Wallonie zu retten, gibt es zwei rechtliche Möglichkeiten. Und beide haben etwas mit Wegschneiden zu tun. Möglichkeit eins: Der Ceta-Vertrag wird ohne Belgien umgesetzt; Belgien bleibt draußen, kann gegebenenfalls irgendwann später beitreten; der Vertrag bleibt ansonsten so, wie er jetzt ist, und wird als gemischter Vertrag nach den dafür vorgesehenen Regeln von allen anderen EU-Mitgliedstaaten in Kraft gesetzt. Man könnte dann das Vertragswerk in Kürze auf einem EU-Gipfel unterzeichnen.
Möglichkeit zwei: Das bisher als ein gemischtes Abkommen behandelte Ceta-Abkommen wird entmischt; aus einem Vertrag werden also zwei Verträge: Ceta 1 und 2. Im Vertrag Ceta 1 stehen die Dinge, für die nur die Europäische Union zuständig ist, also alle Regelungen, die mit dem Außenhandel zu tun haben. In Ceta 2 stehen die Dinge, für die die Nationalstaaten zuständig sind, in denen es beispielsweise um Kultur geht. Ceta 1 könnte schnell mit qualifizierter Mehrheit im Ministerrat verabschiedet werden. Ceta 2 geht auf Zustimmungstour durch die Mitgliedstaaten.
Beide Methoden sind nicht der Weisheit letzter Schluss, es wären Notmaßnahmen, um nach einem politischen Energie- und Verhandlungsaufwand sondergleichen zu retten, was vom Vertrag zu retten ist – und zu überlegen, wie man in Zukunft verhindert, dass man wieder in eine solche Notlage kommt. Dabei darf man nicht von vornherein davon ausgehen, dass ein gemischter Vertrag (ein Vertrag also, in dem sowohl EU- als auch nationale Angelegenheiten geregelt werden) automatisch schlecht ist. Im Ceta-Vertrag machen zwar nationale Materien allenfalls zehn Prozent aus. Weil der Vertrag aber deswegen von der EU-Kommission nach langem Zögern als gemischtes Abkommen eingestuft wurde und so die Nationalparlamente ins Spiel kamen, hatte der SPD-Chef und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel die (Druck-)Möglichkeit, noch in letzter Minute Änderungen zu erreichen, auf die er stolz ist. Die Mischung und Mitwirkung der Mitgliedstaaten hat den Vertrag besser gemacht.
Ceta gilt als der Freihandelsvertrag, der die Rechte von Arbeitnehmern und Verbrauchern (verglichen mit anderen Freihandelsverträgen) noch am besten wahrt. Der Juraprofessor Franz C. Mayer, er ist Rechtsvertreter der Bundesregierung in Karlsruhe und Ordinarius für Europa- und Völkerrecht in Bielefeld, nennt den Ceta-Vertrag „progressiv“. Ein besserer Vertrag als der mit der linksliberalen Regierung Trudeau in Kanada lasse sich kaum verhandeln, meint er. Die Ceta-Kritiker sehen das anders; ihnen wäre es lieber, wenn der Vertrag an der Wallonie scheiterte. Wer das nicht will, muss sich die genannten Möglichkeiten eins und zwei näher anschauen.
Möglichkeit zwei: das Freihandelsabkommen aufspalten in ein Ceta 1 und ein Ceta 2
Mayer ist Anhänger der Möglichkeit eins: Belgien aus dem Ceta-Vertrag herauszunehmen. Nirgendwo stünde geschrieben, erklärte er der SZ, dass gemischte Abkommen von allen Mitgliedstaaten beschlossen werden müssten. Falls Wallonien nicht einlenke, könne man den Vertrag also auch ohne Belgien in Kraft setzen – wenn Kanada dem zustimmt. Das könnte womöglich der belgischen Regierung sehr recht sein; sie hätte der Wallonie dann ihren Willen gelassen und zugleich nicht mit einer kleinen Minderheit ein großes Vertragswerk blockiert. In dem Blog „verfassungsblog.de“ hat Mayer die Möglichkeit von Ceta ohne Belgien durchgespielt.
Christoph Vedder, emeritierter Ordinarius für Europarecht und Völkerrecht in Augsburg, ebenfalls ein sehr erfahrener Experte, plädiert für Methode zwei: für die Entmischung des gemischten Vertrages, Ceta soll zerlegt werden. Die Teile, für die die einzelnen Staaten zuständig sind, sollen herausgenommen und gesondert behandelt werden. Vedder glaubt, das sei relativ rasch umsetzbar. Voraussetzung: Kanada und Belgien erklären sich damit einverstanden. Vedder empfiehlt der EU, sich für die Methode zwei zu entscheiden und dies auf dem Gipfel so zu beschließen.
Diese Methode Entmischung ist in der Bundesrepublik vielfach erprobt; Gesetzgebungspolitik in Krisenzeiten hat in Bonn und Berlin sehr oft so funktioniert. Wenn eine Bundesregierung damit rechnen musste, dass sie für ein im Bundesrat zustimmungspflichtiges Gesetz dort keine Mehrheit findet, wurde das Paket aufgeschnürt, der zustimmungspflichtige Teil herausgenommen und dann ein verschlanktes Gesetz nur im Bundestag verabschiedet. Berühmtes Beispiel ist das Lebenspartnerschaftsgesetz der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder, das die Homo-Ehe ermöglichte. Das Gesetz wurde von der Union strikt abgelehnt. Rot-Grün hebelte den Bundesrat aus, indem es das Gesetz in einen zustimmungsfreien und einen zustimmungspflichtigen Teil zerlegte. Im zweiten Teil fanden sich dann etwa die Ausführungsregeln für das Standesamt.
Das wäre also im Fall Ceta das Vorbild. Die EU und Kanada sind zwar nicht Lebenspartner, aber immerhin Handelspartner.