„Ein schlechter Tag für Europa“

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Die EU-Kommission versucht wieder einmal, die Kompetenzen der nationalen Parlamente zu beschneiden. Künftig sollen nur EU-Gremien über Handelsabkommen entscheiden. Das schreibt die Süddeutsche Zeitung. (Foto: Anti-CETA-Aktionstag 9. September in Marburg)

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Für die EU-Kommission ist es ein Grund zur Freude: Obwohl es erst von einer Handvoll Staaten der Europäischen Union ratifiziert ist, tritt an diesem Donnerstag das umstrittene Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) vorläufig in Kraft. 590 Millionen Euro werde die EU von nun an jährlich sparen, erklärte die Behörde am Mittwoch in Brüssel. Dies sei der Betrag, den Firmen bisher an Zöllen für nach Kanada ausgeführte Güter zahlen müssten. Handelskommissarin Cecilia Malmström erwartet mehr Wachstum und mehr Jobs. „Schon am ersten Tag des Inkrafttretens werden 98 Prozent aller Produktgruppen von Zöllen befreit sein“, schrieben sie und der kanadische Handelsminister François-Philippe Champagne in der Frankfurter Rundschau: „alles von Industrieausrüstungen über medizinische Geräte bis hin zu Nahrungsmitteln und Bekleidung“.

CETA hat die EU Schweiß und Tränen gekostet. Geschlossen wurde es Ende vergangenen Jahres, fast wäre es am Einspruch der belgischen Wallonie gescheitert. Wie TTIP, das auf Eis liegende Abkommen mit den USA, hatte es intensiven Protest von Umweltschützern und Globalisierungskritikern hervorgerufen, der sich auch gegen die angeblich mangelhafte Transparenz des Verhandlungsprozesses richtete. Der Widerstand besteht fort. Das Netzwerk Attac kritisierte am Mittwoch, CETA werde über ein „undemokratisches Durchpeitschen“ vorläufig in Kraft gesetzt, der Landwirtschaft drohe ein verschärfter Preisdruck. Die Vorsitzende der Grünen im EU-Parlament Ska Keller sprach von einem „schlechten Tag für Europa“, weil durch CETA in die öffentliche Daseinsvorsorge eingegriffen und das „Vorsorgeprinzip“ in der EU aufgeweicht werde, das Verbraucher vor gefährlichen Produkten schützt.

„Gemischt“ oder „EU only“?

Andere sehen auch Positives. Der Streit habe einen „Demokratisierungsschub in der Handelspolitik“ bewirkt, urteilt Kellers Parteifreund Reinhard Bütikofer, „die Öffentlichkeit spielt heute mit“. Ernst genommen wurde die Kritik aber nur, weil die Möglichkeit im Raum stand, CETA vollständig zu stoppen. Das wiederum hängt mit einem Kompetenzstreit in der Handelspolitik zusammen: Sind die Abkommen „EU only“, liegen also in alleiniger Kompetenz von Brüssel?

Dann müssten nur die Vertreter der Mitgliedstaaten und das EU-Parlament zustimmen. Oder sind sie „gemischt“ und müssten somit auch von allen nationalen Volksvertretungen gebilligt werden, was dem Protest eine viel größere Wucht verliehe? Der Vertrag von Lissabon hat die EU-Ebene gegenüber den Mitgliedstaaten gestärkt, um mehr Stringenz und Schlagkraft in diesen Politikbereich zu bringen. Dennoch stufte die Kommission CETA im vergangenen Jahr – angesichts der Diskussionen in Berlin und anderswo und wider die eigene Überzeugung – als „gemischtes Abkommen“ ein und ermöglichte damit die wallonische Hängepartie.

Schon damals wurde in der Kommission über eine Gegenstrategie nachgedacht: Trennung der Abkommen in einen „EU-only“- und einen zustimmungspflichtigen Teil. Wenn Letzterer sehr viel kleiner ausfiele, so die Idee, könnte auf diese Weise die Substanz künftiger Handelsabkommen vor den gefürchteten nationalen Einspruchsversuchen geschützt werden.

Die Justiz wird wohl den Weg weisen

In einem Gutachten zum Abkommen mit Singapur lieferte der Europäische Gerichtshof der Kommission später eine perfekte Vorlage. Er definierte die alleinige EU-Kompetenz so breit, dass sie auch viele eigentlich handelsfremde Bereiche wie den Umweltschutz und soziale Rechte umfasst. Zwar sprach er auch den Mitgliedstaaten eine Mitzuständigkeit zu, beschränkte diese aber auf ein kleines Gebiet: sogenannte Portfolioinvestitionen und die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten.

Diesen Bereich scheint die Kommission nun tatsächlich von vornherein in ein separates Abkommen auslagern zu wollen. Das lässt sich zumindest Andeutungen entnehmen, die Präsident Jean-Claude Juncker vergangene Woche in seiner Rede zur Lage der EU machte. „Das Europäische Parlament wird bei allen Handelsabkommen das letzte Wort haben“, sagte er – und forderte, Abkommen mit Japan, Mexiko, Australien und Neuseeland bis Frühjahr 2019 abzuschließen. Beides ergibt nur Sinn mit der erwähnten Strategie, Abkommen künftig zu teilen.

Was den Streit mit Investoren betrifft, wird wohl auch hier wieder die Justiz den Weg weisen. Anfang September bat die belgische Regierung um die Meinung des EuGH zu dem von der EU geplanten und in CETA schon enthaltenen System von Schiedsgerichten. Den Schritt hatten die Wallonen im vergangenen Jahr zur Bedingung für ihr Ja gemacht. Belgien will nun geklärt wissen, welche Kompetenzen den neuen Gerichten im Verhältnis zum EuGH zukommen, wie die Richter ernannt und bezahlt werden und was bei Interessenkonflikten geschieht.