Ein Bericht vom Forum „The Shape of Trade to Come“
Vor circa zehn Jahren hatte die Europäische Union (EU) mit Global Europe ihre bisher ambitionierteste handelspolitische Strategie vorgelegt. Mit ihr sollten durch neue bilaterale Handels- und Investitionsabkommen weltweit neue Märkte aufgebrochen werden. Schließlich hatten sich viele Länder des Südens bis dahin erfolgreich dagegen gewehrt, die neue „Handelspolitik des 21. Jahrhunderts“, wie die EU sie sich vorstellt, mitzumachen – auch weil es um weit mehr geht als den Abbau von zwischenstaatlichen Zöllen …
Diese Abkommen (darunter TTIP und CETA) stießen jedoch auf heftigen Widerstand. Hinzu kamen politische Umbrüche in den Vereinigten Staaten mit der Wahl von Donald Trump und in Lateinamerika mit der Wahl von Mauricio Macri in Argentinien sowie der Amtsenthebung von Dilma Rousseff in Brasilien. Dies alles hat eine Neuausrichtung der handelspolitischen Agenda der EU eingeleitet, die in den politischen Umbrüchen in Lateinamerika eine Chance sieht, dort durch Abkommen ihre Vorstellungen durchzudrücken.
Angesichts der Gefahr eines Durchmarsches neoliberaler Handelsabkommen zwischen der EU und Lateinamerika luden das Transnational Institute (TNI), das Netzwerk Seattle to Brussels(S2B) sowie die Rosa-Luxemburg-Stiftung Brüssel im Sommer 2017 zum Forum The Shape of Trade to Come – Latin America and Europe ein. Etwa 50 Aktivist*innen und Handelsexpert*innen aus Zivilgesellschaft, Politik und Gewerkschaften diskutierten dort über die Entwicklung der handelspolitischen Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika und entwickelten Strategien, wie die Freihandelsagenda zugunsten einer gerechten Handelspolitik geschwächt und überwunden werden kann.
Cecilia Olivet vom Transnational Institute erklärte auf der Konferenz, dass es derzeit 263 bilaterale Investitionsabkommen zwischen Ländern Lateinamerikas und der EU gebe, von denen circa 70 Prozent zwischen 1985 und 2000 abgeschlossen wurden. Diese Zahl sei heute rückläufig, jedoch zeichne sich nun ein Trend zu Freihandelsabkommen mit Investitionsschutzklauseln ab. Dies habe damit zu tun, so Olivet, dass die Wirtschaftsmodelle in Lateinamerika weiterhin stark auf exportorientiertes Wachstum ausgerichtet seien und gleichzeitig ein Fokus auf Direktinvestitionen und deren Wachstumseffekte gelegt werde. Einige Länder Lateinamerikas nutzen oder nutzten diese Elemente für eine Umverteilungspolitik, jedoch sei die produktive Basis selten angegangen worden. Allerdings könne zum Beispiel der breite Zugang zu Bildung, den progressive Regierungen in Lateinamerika ermöglichten, auch das Potenzial bergen, die produktive Basis einer Gesellschaft zu transformieren.
Auch Alberto Villareal aus Uruguay (Friends of the Earth Uruguay/REDES) betonte die in Teilen Lateinamerikas erneut wachsende Tendenz hin zu investorenfreundlicher Politik als Entwicklungsmotor, verbunden mit dem Problem permanent wachsender Staatsschuldenquoten. Langfristig führe diese Entwicklung zu einer vertieften Integration Lateinamerikas in globale Wertschöpfungsketten, wobei Lateinamerika weiterhin die Rolle des billigen Lieferanten von Rohstoffen und Arbeitskraft zukommen solle. Der Handelsexperte Alberto Arroyo aus Mexiko wies darauf hin, die dabei notwendige Differenzierung zwischen drei lateinamerikanischen Blöcken (ALBA/Mercosur/Pazifische Allianz) und deren ökonomischen Modellen nicht zu übersehen. Auf der einen Seite finden sich die Länder mit klarer neoliberaler Agenda, beispielsweise Kolumbien, auf der anderen die Staaten der Bolivarianischen Allianz für Amerika (ALBA). Dazu kommen die Länder des Mercosur-Blocks, darunter Brasilien und Argentinien; dort ist in den vergangenen Jahren das herrschende Wirtschaftsmodell nicht angegangen worden, aber auf politischer Ebene wurden bedeutende Maßnahmen hin zu mehr gesellschaftlicher Verteilungsgerechtigkeit umgesetzt.
Diese Fortschritte werden derzeit infolge der neoliberale Wende von 2016 jedoch wieder zurückgedreht. Damit zeichnet sich auch in Lateinamerika der Trend zu einer erneuten stärkeren Polarisierung der politischen und wirtschaftlichen Modelle ab. Laut Alberto Arroyo sei die drängendste Frage jetzt, wie mehr Spielraum für den Umbau der ökonomischen Struktur geschaffen werden könne. Die Brasilianerin Tica Moreno von der feministischen Bewegung World March of Women ergänzte, dass beim Kampf gegen neoliberale Handelspolitik der zentrale Kampf gegen den Kapitalismus nicht aus den Augen verloren werden dürfe.
In Brasilien, so Jocelio Drummond vom Dachverband der Dienstleistungsgewerkschaften (PSI), sei man jedoch weit davon entfernt, die Kritik an Freihandels- und Investitionsverträgen in eine breite Öffentlichkeit zu tragen. Das habe einerseits damit zu tun, dass derzeit andere (nationale) Themen die politische Debatte in Brasilien dominieren, andererseits positionierten sich politische Kräfte von links bis rechts in Brasilien als Befürworter des Freihandelsmodells. Dies sei darauf zurückzuführen, dass in Brasilien lagerübergreifend die Narration des Zusammenspiels von Exporten, Handel, Investitionen und Entwicklung geteilt werde. Das gehe einher, wie Luciana Ghiotto vom argentinischen Bündnis Argentina Mejor sin TLC betonte, mit einer Annäherung des Mercosur-Blocks an die Pazifische Allianz, hin zu einer Agenda der innerlateinamerikanischen Liberalisierung. Damit würden insbesondere die wirtschaftlich starken Staaten Lateinamerikas auf eine Kopie des asiatischen Wettbewerbsmodells hinarbeiten, zulasten der Arbeiterklasse. Ein bottom-up-Ansatz wie von Venezuela und anderen vorangetrieben, verbunden mit alternativem Regionalismus, werde derzeit laut Ghiotto weiter geschwächt.
Patricio López vom chilenischen Bündnis Chile mejor sin TLC verwies auf die verbreitete Gleichgültigkeit in der chilenischen Gesellschaft gegenüber handelspolitischen Debatten. Dennoch sei auch in Chile die neoliberale Hegemonie nicht mehr ganz so geschlossen wie in der Vergangenheit. Dabei sei das Rentensystem in Chile ein wichtiger Faktor, der Interventionsmöglichkeiten für Diskursverschiebungen biete, wie sich im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen das transpazifische Handelsabkommen (TPP) gezeigt habe.
In Lateinamerika steht die gesamte Rechte fest hinter der Freihandelsideologie, die Abgrenzung von Globalisierungskritik vonseiten der extremen Rechten spielt in den Bewegungen dort keine Rolle. Anders in Europa, wo sich Teile der extremen Rechten die linke Freihandelskritik zu eigen machen. Der gemeinsame Kampf mit Akteuren aus Lateinamerika gegen Nord-Süd-Handelsabkommen kann daher auch eine Stärke sein, um sich von rechter Freihandelskritik in Europa abzugrenzen. Trotz der intra- und innerregionalen Unterschiede, die auf der Konferenz sichtbar wurden, gibt es verbindende Elemente für gemeinsame Strategien von Handelspolitikaktivist*innen in Lateinamerika und Europa. Diese verlaufen zum Beispiel entlang der transnationalen Konzerne, deren wachsende Macht in beiden Regionen eine Gefahr für Arbeitnehmer*innen, für Umwelt, Demokratie und Menschenrechte ist. Der unter dem Vorsitz Ecuadors eingeleitete UN-Prozess zur Schaffung verbindlicher Menschenrechtsnormen für transnationale Konzerne (im sogenannten UN Treaty ist dabei ein Schritt zur Begrenzung einer Wirtschafts- und Handelspolitik, die zuallererst die Interessen großer Unternehmen und deren hemmungsloser Bereicherung verfolgt. Weit schwerer ist es, Alternativen zu Freihandel, zu Kapitalismus und Neoliberalismus voranzutreiben. Hierfür lohnt sich der Blick auf das ALBA-Modell in Lateinamerika. Aktuell steht die Mobilisierung gegen die kommende Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Buenos Aires an. Denn WTO und bilaterale Verhandlungen werden von den Freihandelsideolog*innen derzeit taktisch genutzt, um in einer Art Pingpongspiel die neoliberale Reformagenda ins Welthandelsregime zu drücken.
Ein ausführlicher Report zur Konferenz wird demnächst auf www.rosalux.eu erscheinen.
Der Autor Florian Horn arbeitet bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brüssel.
PS: Dieser Beitrag erschien in der lesenswerten Novemberausgabe des Lateinamerika-Magazins ila mit dem Themenschwerpunkt „Freihandel“.