„Private Schiedsgerichte beschädigen den Staat“

In einem Interview mit dem Magazin „Mitbestimmung“ der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung äußert sich der ehemalige Verfassungsrichter Siegfried Broß über die Gefahren für die Demokratie durch private Schiedsgerichte in Investitionsschutzabkommen und das wegweisende Urteil des Europäischen Gerichtshofs.

Die Wochenzeitung „Die Zeit“ sprach von einer „Sensation“; eine „Schockwelle“ laufe durch die internationalen Anwaltskanzleien. Auslöser war das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union, der Anfang März die Klausel über private Schiedsgerichte in einem innereuropäischen Investitionsschutzabkommen für illegal erklärte. Damit stehen viele weitere solcher Abkommen in Frage, die es ausländischen Investoren ermöglichen, von ihren Gaststaaten vor privaten Schiedsgerichten Schadenersatz einzufordern (wie dies z.B. der schwedische Energiekonzern Vattenfall tat, als er Deutschland wegen des Atomausstiegs vor einem Washingtoner Schiedsgericht auf 4,7 Milliarden Euro verklagte – das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen). Das Magazin Mitbestimmung hat dazu den ehemaligen Richter des Bundesverfassungsgerichts und am Bundesgerichtshof, Siegfried Broß, befragt. Broß hatte bereits 2015, auf dem Höhepunkt der Debatte über die Freihandelsabkommen TTIP (mit den USA) und CETA (mit Kanada), in einer Expertise für die Hans Böckler Stiftung kritisch Stellung bezogen zur Problematik privater Schiedsgerichte.

Die Fragen stellte Stefan Scheytt.

Herr Broß, Sie sagen, dass Sie weder gegen Freihandel sind noch gegen Freihandelsabkommen; Sie sind aber entschieden gegen private Schiedsgerichte, wie sie in vielen Freihandelsabkommen vorgesehen sind. Was ist so schlimm an diesen Gerichten?

Wenn sich ein Autohändler und sein Kunde darauf einigen, im Streitfall kein ordentliches Gericht anzurufen, sondern ein privates Schiedsgericht, ist das Ausdruck ihrer privaten Autonomie und nicht zu beanstanden. Etwas völlig anderes ist es, wenn der Staat das tut: Er nimmt sich damit quasi selber aus dem Spiel und tritt seine originäre Aufgabe an private Schiedsrichter ab, deren – meist nicht-öffentliche – Entscheidung nicht einmal angefochten werden kann. Der Staat desavouiert damit sein eigenes Justizsystem, das Rechtsstaats- und Demokratieprinzip wird im Grunde aufgegeben und privatisiert. Es darf aber nicht sein, dass der Staat seine Aufgabe mit einer Art Blankoscheck an private Außenstehende überträgt, die keinerlei rechtsstaatlicher und demokratischer Kontrolle unterliegen und in erster Linie von ökonomischen Interessen geleitet sind. Sich einer privaten Gerichtsbarkeit außerhalb der Staatenebene zu unterwerfen – das ist im Grunde ein unglaublicher Vorgang. Aber vielen ist leider immer noch nicht bewusst, welche Dimensionen diese Problematik hat.

Schon 2015 sind Sie in einer Expertise für die Hans Böckler Stiftung zum Ergebnis gekommen, dass private Schiedsgerichte „nicht hinnehmbar“ seien, weil sie gegen unsere Verfassung und das Völkerrecht verstoßen. Warum hat das Bundesverfassungsgericht, dem Sie zwölf Jahre angehörten, nie etwas dagegen unternommen?

Das Problembewusstsein war schlicht und ergreifend unterentwickelt, auch namhafte Völkerrechtler wollten das Problem nicht wahrhaben. So konnte diese umfassende Parallelwelt der privaten Schiedsgerichtsbarkeit entstehen, welche die parlamentarische, rechtsstaatlich-demokratische Grundordnung in Deutschland und in vielen anderen Vertragsstaaten gefährlich aushöhlt. Ich habe das immer wieder hinterfragt und war dabei streckenweise auch alleine. Aber ich bekam und bekomme immer wieder Schützenhilfe…

… so wie jetzt durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Der hat Anfang März entschieden, dass die Schiedsklausel in einem Investitionsschutzabkommen zwischen den Niederlanden und der Slowakei nicht mit EU-Recht vereinbar ist – das private Schiedsgericht gehöre nicht zum Gerichtssystem der Union.

Dieses Urteil hat meine Auffassung in der Tat bestätigt. In dem Fall verklagte der niederländische Versicherungskonzern Achmea die Slowakei, die 2004 ihren Krankenversicherungsmarkt für private Investoren geöffnet hatte. Als eine spätere Regierung diese Liberalisierung teilweise wieder zurücknahm und insbesondere die Ausschüttung von Gewinnen untersagte, klagte das Unternehmen auf Schadenersatz in Höhe von mehr als 22 Millionen Euro und bekam von einem privaten Schiedsgericht in Frankfurt recht. Der Fall zeigt, wie Politik von außen gesteuert und gelähmt werden kann, wenn man diesen Schiedsgerichten freie Bahn lässt. Dann trauen sich Regierungen und Parlamente immer weniger, Entscheidungen zu treffen, weil sie am Ende dafür verklagt werden und nichts gegen das einmal gefällte Urteil des Schiedsgerichts unternehmen können. Damit wird das parlamentarische, demokratische Prinzip ad absurdum geführt.

Das Urteil des Gerichtshofs gilt einem Investitionsschutzabkommen zwischen zwei EU-Ländern. Ist der Richterspruch auch relevant für das Freihandelsabkommen CETA, obwohl dies ja zwischen der EU und dem Nicht-EU-Land Kanada geschlossen wurde?

In der Tat. Man kann das Urteil in vollem Umfang auf CETA übertragen: Das höchste europäische Gericht, der EuGH, sagt eindeutig, dass Schiedsgerichte außerhalb der europäischen Rechtsordnung liegen, weil sich ihre Entscheidungen der gerichtlichen Überprüfung entziehen. Damit würde dem EuGH ein Teil seiner Funktion und Stellung entzogen – nämlich Verfassungsgericht der EU und Hüter der europäischen Verträge zu sein. Der Gerichtshof bliebe außen vor, das springt so ins Auge, das kann man gar nicht übersehen. Und dabei spielt keine Rolle, ob ein Schiedsgericht durch einen Vertrag zwischen EU-Ländern oder mit Nicht-EU-Staaten etabliert wurde.

Ist CETA, das im September 2017 nur vorläufig in Kraft trat und noch von vielen EU-Ländern ratifiziert werden muss, damit tot?

Das ist durchaus denkbar. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht, als es im September über die Rechtmäßigkeit der vorläufigen Zustimmung zu CETA entschied, der Bundesregierung drei schwerwiegende Auflagen gemacht. Insofern ist CETA nur „relativ“ in Kraft getreten, das Hauptsacheverfahren steht ja noch aus. Und das aktuelle Achmea-Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist eine weitere Bestätigung meiner Kritik.

Welche Mechanismen halten Sie vor allem für gefährlich für die Demokratie?

Die Gefahr durch Freihandelsabkommen für die Demokratie besteht letztlich in der Kombination von drei Elementen: Die regulatorische Zusammenarbeit zwischen den Vertragsstaaten – in diesem Fall die EU und Kanada – ist aufgrund der Zusammensetzung der Gremien ein hervorragendes Instrument für Lobbyisten, um die parlamentarische Gesetzgebung vorzuprägen und zu steuern – ob beim Umweltschutz, bei Arbeitnehmerrechten oder der Daseinsfürsorge; der Wille des Volkes wird also nicht mehr repräsentativ parlamentarisch vermittelt, sondern durch wirtschaftlich interessierte Gruppen wahrgenommen und definiert. Hinzu kommen die Klagerechte für ausländische Investoren, wodurch übrigens inländische Konkurrenten diskriminiert werden. Und das dritte Element sind die von den Unternehmen und Vertragsbeteiligten nach deren Gutdünken zusammengesetzten privaten Schiedsgerichte, die dann im Streitfall die Verträge interpretieren – ohne öffentliche Verhandlung, ohne Möglichkeit zur Berufung. Sich einer solchen Gerichtsbarkeit außerhalb der Staatenebene zu unterwerfen, bedeutet den Verlust staatlicher Souveränität und Selbstachtung, den wir nicht zulassen dürfen.


ZUR PERSON

Prof. Siegfried Broß, 71, war von 1986 bis 1998 Richter am Bundesgerichtshof und daran anschließend bis 2010 Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe.