Don Quijote am Amazonas

Tweet der Deutschen Bank, Oktober 2018

Warum die Empörung über den brennenden Amazonas-Urwald gerade wirkungslos verpufft, statt einen Fukushima-Moment auszulösen. Ein Aufruf von Jürgen Maier.

„Unser Haus brennt“, so der französische Präsident Macron zu den Waldbränden am Amazonas. Er meinte damit aber nicht die 360.000 Hektar Regenwald in Französisch-Guyana, die gerade zur Abholzung freigegeben wurden, sondern Brasilien. Über die von seinem G7-Gipfel beschlossenen Löschflugzeuge macht sich Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro unterdessen lustig und will sie gar nicht haben.

Kein Wunder: Das Abbrennen ist kein Unglück, sondern die erklärte Politik Bolsonaros, des „Wunschkandidaten der Märkte“ (Deutsche Bank) und der hinter ihm stehenden Agrarindustrie. „Es ist kein Zufall, dass Großfarmer und Kleinbauern am Amazonas gerade jetzt mehr Fläche denn je anzünden, da das größte Freihandelsabkommen der Welt winkt“, so die Süddeutsche Zeitung. In der Tat.

Weil dies offensichtlich ist, ist auch den regierungsamtlichen spin doctors klar: Löschflugzeuge allein reichen nicht. Es muss der Eindruck entstehen, dass mehr getan wird. Der deutsche Außenminister Heiko Maas gibt sich immerhin verbal ambitioniert. „Wir dürfen nicht tatenlos zuschauen, wie verheerende Brände die grüne Lunge der Welt zerstören“, sagte der SPD-Politiker Ende August bei der Botschafterkonferenz im Auswärtigen Amt. Wie er sich die Taten vorstellt, sagte er auch: Er habe seinem brasilianischen Amtskollegen am Telefon die Unterstützung Deutschlands im Kampf gegen die Brände angeboten. Das überzeugt nun wirklich niemanden.

Ambitionierter gibt sich Julia Klöckner. In ihrer unnachahmlichen Art behauptet sie einfach, das geplante EU-Freihandelsabkommen mit dem südamerikanischen Wirtschaftsblock Mercosur beinhalte ein Nachhaltigkeitskapitel mit verbindlichen Regelungen. „Wenn diese nicht eingehalten werden, kann es die vereinbarten Zollerleichterungen nicht geben. Da geht es auch um unsere Glaubwürdigkeit“, so wird sie in top agrar zitiert. Die Industrielobby blä̈st ins gleiche Horn: Mit dem Mercosur-Freihandelsabkommen könne man erst so richtig Druck auf Brasilien aufbauen. Allerdings musste gleich darauf die EU-Kommission zugeben, dass der geplante Vertrag keine Sanktionen vorsieht, wenn Brasilien illegal Wald rodet. Mit anderen Worten: Industrie und Ministerin verbreiten Fake-News.

Also – alle wollen „was tun“, aber was? Da müsste man doch bei der „progressiven Zivilgesellschaft“, bei den NGOs fündig werden. Natürlich ist der brennende Amazonas überall Thema auf den Webseiten, und Online-Appelle gibt es mittlerweile auch ein halbes Dutzend. Was wird denn da so gefordert?

Im wesentlichen geht es nach der Devise „Der Regenwald brennt – jetzt helfen! – Mausklick“, und schon erscheint die Spendenkontonummer. Mehr nicht. Sozusagen die NGO-Version der Löschflugzeuge. Warum brennt er? Fehlanzeige. Über die ökonomischen Hintergründe wird nicht viel erklärt. Und mit konkreten politischen Forderungen sieht es auch recht dünn aus.

Immerhin, der geplante Mercosur-Vertrag wird thematisiert. Eine Umweltorganisation, deren Name nichts zur Sache tut, fordert: „Wir brauchen eine Handelspolitik, die viel mehr Wert auf Nachhaltigkeit legt“. Aha. Kein sozialdemokratischer Handelsexperte könnte es besser formulieren. Deswegen müsse Mercosur nachverhandelt werden, deutsche „Unternehmen und Bundesregierung müssten Lieferketten systematisch überprüfen, um sicherzustellen, dass in Deutschland verkaufte Produkte nicht den Amazonas-Regenwald zerstören.“ Abgesehen davon, dass kein normaler Mensch versteht, was das heißen soll, ist es das Gegenteil einer Sofortmassnahme.

Eine andere NGO sammelt Online-Unterschriften unter eine Petition – ausgerechnet – an Bolsonaro: „Wir fordern von der brasilianischen Regierung den Schutz des Amazonas-Regenwaldes. Wir müssen den Kahlschlag aufhalten, sonst verlieren wir unseren engsten Verbündeten im Kampf gegen die Klimakrise.“ Ja, das wird den Herrn bestimmt beeindrucken. Forderungen an die Bundesregierung? Fehlanzeige.

Eine andere rät: „Wir sollten deshalb vorrangig Druck auf die deutsche Bundesregierung machen, sich gegen das Mercosur-Abkommen und gegen die Massentierhaltung in Deutschland einzusetzen, die auf die Futtermittelimporte aus Übersee angewiesen ist. Beides sind Hebel, die wir hier vor Ort nutzen können, um unsere klimaschädlichen Auswirkungen in Brasilien zu begrenzen.“ Man hätte es durchaus etwas weniger verklausuliert sagen können, z.B.: Die Regierung soll das Mercosur- Abkommen ablehnen und es damit blockieren, und die Massentierhaltung gesetzlich unterbinden.

Immerhin, die diversen Online-Appelle mit jeweils einigen Hunderttausend Unterschriften fordern von der Bundesregierung klipp und klar, das Mercosur-Abkommen nicht etwa „nachzuverhandeln“, sondern abzulehnen. Ein anderer[https://www.regenwald.org/petitionen/1189/profiteure-der-feuer-stoppt-sojahaendler-cargill]fordert sogar Verbraucherboykotte gegen Cargill, einem der grössten Sojadealer der Welt.

Viel bewirken werden alle diese Appelle nicht, was sind schon ein paar Hunderttausend Unterschriften. Aber mal ehrlich – selbst wenn man die weitestgehende dieser Forderungen nimmt, nämlich das Mercosur-Freihandelsabkommen stoppen: Es wäre nicht mehr als die Beibehaltung des Status Quo. Nicht gerade sehr revolutionär. So weit sind inzwischen sogar einige EU-Regierungen – nämlich diejenigen, wo nicht etwa die Umwelt-NGOs, sondern die Bauern-Proteste gegen die geplanten massiv erhöhten Fleischimporte aus Brasilien am stärksten sind. Also Irland und Frankreich sowie Österreich.

Das war’s. Den Status Quo erhalten. Das war alles? So soll der „unser brennendes Haus“, der Amazonas gerettet werden? Mit weiter-so? Wohl kaum.

Don Quijote reitet anscheinend inzwischen durch den abgebrannten Amazonas-Urwald statt durch Kastilien.

Für die spin doctors in Industrie und Regierung läuft alles super: die Wogen der Empörung steigen hoch, die Regierung ist mit empört, der Übeltäter ist weit weg, und irgendwie verpufft alles ohne konkrete und wirksame Forderungen. Das Geschäft kann weiterlaufen. Es läuft ja schon seit Jahrzehnten sehr gut ohne ein Mercosur-Abkommen, so wichtig ist das gar nicht, und bis die Ratifizierung konkret wird, vergehen sowieso noch ein paar Jahre, da kann man jetzt ruhig mal drohen.

Erinnern wir uns: 2011 zerstörte ein Tsunami die Atomkraftwerke von Fukushima. Es war ein ähnlicher Katastrophen-Moment – aber damals forderte niemand, den status quo zu erhalten. Es hat auch niemand gefordert, „Nachhaltigkeit müsse ein grösseres Gewicht in der Energiepolitik bekommen“, oder kleine kosmetische Korrekturen vorzunehmen, etwa verschärfte Sicherheitsanforderungen oder eine Nachverhandlung der 2010 beschlossenen Atomkraft-Laufzeitverlängerungen. Die schwarz-gelbe Regierung nahm ihre Laufzeitverlängerungen, eines ihrer Prestigeprojekte, schlicht zurück, und für die Betreiber gab es einige finanzielle Sweeties. Aber das Geschäftsmodell Atomkraft ist spätestens seitdem unzweifelhaft ein Auslaufmodell.

Und heute, beim brennenden Amazonasurwald? Das Geschäftsmodell der globalen Agrarindustrie ist mitnichten ein Auslaufmodell. Das Radikalste, was man in der öffentlichen Debatte und den sozialen Medien findet, ist der Aufruf zum persönlichen Fleischverzicht. Unpolitischer geht es gar nicht mehr. Der deutsche Fleischkonsum sinkt seit Jahren, die Produktion steigt trotzdem. Es wird eben mehr exportiert, der Globalisierung und den EU-Freihandelsabkommen sei Dank.

Die „progressive Zivilgesellschaft“ und die NGOs haben zwar nicht die politische Macht, aber den öffentlichen Diskurs beeinflussen können sie sehr wohl. Es wird Zeit, diese Macht dazu zu nutzen, die Debatte endlich wieder zu politisieren, über Geschäftsmodelle und ihre Profiteure zu reden, und konkreten Druck zur Veränderung des Status Quo auszuüben – und zwar so, dass die spin doctors von Regierung und Industrie ins Schwitzen kommen.

Dazu müssen wir über die Politische Ökonomie des Agribusiness reden, auch wenn viele heutzutage keine Ahnung mehr davon haben, was Politische Ökonomie ist, sondern lieber über Werte und Lebensstile reden und das für Politik halten. Wir müssen Ross und Reiter nennen, konkrete Unternehmen und Geschäftsmodelle, die den Planeten kaputt machen, und eine Politik die ihnen zu Diensten ist: die globale Agrarindustrie.

In Südamerika wird auf riesigen – und immer riesiger werdenden – Flächen Gentechnik-Soja angebaut, und dafür der Boden mit Glyphosat kaputtgemacht. Die Profite kassieren eine Handvoll Großagrarier und Konzerne, das Volk in Brasilien hat nichts davon. Das Soja wird nach Europa und China exportiert, und macht dort tierquälerische Massentierhaltung und die Industrialisierung der Landwirtschaft erst möglich. Das so produzierte Billigfleisch und die Billigmilch geht weit über den Bedarf der EU hinaus, und wird zu Dumpingpreisen weiterexportiert, dafür öffnen EU-Freihandelsabkommen die Märkte. Dieses Geschäftsmodell nützt den Aktionären einiger weniger Konzerne, und zerstört das Klima, zerstört den Urwald, zerstört die bäuerliche Landwirtschaft in Südamerika, Europa, Afrika. Das Hauptmotiv für die Bundesregierung, dieses zerstörerische Geschäftsmodell mit dem Mercosur-Abkommen noch weiter auszudehnen, ist der Versuch, noch mehr deutsche Autoexporte zu ermöglichen.

Darum geht es. Das wissen wir doch alles. Wir. Eigentlich. Aber wir behalten es für uns. In der öffentlichen Debatte sind diese Zusammenhänge immer noch nicht präsent. Und das liegt auch daran, dass wir nur Symptome thematisieren, aber keine Zusammenhänge und keine Ursachen.

Warum machen wir nicht massiv Front gegen diese Agrarindustrie und ihre Geschäftsmodelle und nennen sie Brandstifter? Warum nennen wir keine Namen, Anteilseigner, Profiteure? Warum redet die Öffentlichkeit über Löschflugzeuge und vielleicht noch die einstweilige Nichtratifizierung des Mercosur-Abkommens, das noch nicht einmal zu Ende verhandelt ist und frühestens in zwei Jahren zur Ratifizierung ansteht, wenn längst alles vergessen ist und möglicherweise die brasilianische Agrarmafia Bolsonaro bereits wieder fallengelassen hat, weil er ihr mehr schadet als nützt? Wir sind für die spin doctors der Industrie und der Regierung keine Gefahr.

Wenn wir mehr wollen als nur den Status quo erhalten, dann müssen wir dieses Geschäftsmodell und seine Profiteure angreifen und delegitimieren. Der Hebel dafür sind die Sojaimporte. Wenn wir da nicht rangehen, kommen wir nicht weiter. Die Absatzmärkte für das südamerikanische Soja müssen ins Zentrum der Debatte, und sie müssen drastisch schrumpfen. Das muss politisch erzwungen werden, anders geht es nicht. Das muss in die öffentliche Debatte.

Natürlich kommen jetzt sofort die Bedenkenträger. Es ist nicht WTO-konform, Zollerhöhungen oder Importstopps für brasilianisches Soja zu verhängen. Man kann nicht die ganze Landwirtschaft von heute auf morgen ohne Futtermittelimporte organisieren. Die Arbeitsplätze. Und so weiter. Ja, es ist bequemer, den Status quo beizubehalten, aber wozu das führt, wisst ihr selbst.

Ob massive Restriktionen gegen Sojaimporte aus Brasilien WTO-konform wären oder nicht, ist doch völlig sekundär. Wenn die Zerstörung des Amazonas-Urwalds WTO-konform ist, aber Gegenmaßnahmen nicht, dann kann ich nur sagen: Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Wir sind nicht die Hüter der WTO-Verträge. Wenn Putin die Krim annektiert, sind Sanktionen das Normalste auf der Welt, WTO hin oder her. Und für die „grüne Lunge der Welt“ soll man das nicht dürfen? Man muss vielleicht ab und zu mal in unseren alten, 20 Jahre alten Broschüren nachlesen, dass wir die WTO-Verträge mit ihrem neoliberal geprägten Geist immer abgelehnt haben. Das EU-Hormonfleischverbot ist auch nicht WTO- konform, und das ist uns völlig zurecht auch egal. Da Bolsonaros bester Freund Trump gerade die WTO-Schiedsgerichte paralysiert, ist WTO-Recht inzwischen sowieso genauso unverbindlich wie UN- Umweltverträge. Diese Chance sollte man nutzen.

Ach ja, da war ja noch der Multilateralismus. Der real existierende Multilateralismus schützt dieses Geschäftsmodell, dieser WTO-Multilateralismus ist die Wirtschaftsverfassung eines zerstörerischen neoliberalen Wirtschaftsmodells. Es mag Leute geben, die den Schutz des WTO-Wirtschaftsmultilateralismus für wichtiger halten als den Schutz des Planeten. Dieser WTO-Multilateralismus spiegelt die Prioritäten derer wider, die ihn beschlossen haben. Es sind nicht unsere Prioritäten. Das Geschäftsmodell des internationalen Agribusiness kann man nicht im multilateralen Konsens der Staatengemeinschaft stoppen.

Natürlich, auch die bäuerliche europäische Landwirtschaft kann nicht über Nacht ohne Sojafuttermittel auskommen. Das fordert auch niemand. Dafür gibt es das politische Zauberwort „schrittweise“. Aber diese Schritte müssen erkennbar sein, und die möglichst weitgehende Reduktion von Futtermittel- und Fleischimporten ist dabei zentral.

Wenn wir nicht langsam anfangen, diese globale Agrarindustrie politisch ins Visier zu nehmen und zu delegitimieren, ihr Geschäftsmodell kaputt zu machen, statt ein isoliertes Freihandelsabkommen nach dem anderen zu diskutieren, dann klicken wir noch bis 2030 alle zwei Wochen empört auf Onlineappelle und Spendenkonten, und dann hat sich der Fall sowieso erledigt. Dann ist der Amazonas über seinen Kipp-Punkt hinaus gerodet, dann ist der letzte Indianerstamm vertrieben und die letzten Bauern in Südamerika, Europa, Afrika sind aus dem Markt gedrängt, und die Klimakatastrophe nimmt ihren Lauf. Aber wenigstens haben wir uns dann schön an das Völkerrecht gehalten und den Multilateralismus hochgehalten. Das ist die Konsequenz der Politik von Bundesregierung und EU-Kommission, und das kann nicht unsere Position sein.

Wir könnten stattdessen auch wieder über Politik reden, über Politische Ökonomie, oder gar Politik machen. Wir könnten das verfehlte Exportweltmeister-Dogma und die Standort-Deutschland-Ideologie in Frage stellen, denn dafür wollen die deutsche Politik und Wirtschaft ein Freihandelsabkommen nach dem anderen. Wir müssen an die Ursachen ran und nicht an die Symptome. Eine andere Welt ist möglich, und im Gegensatz zu 1999 wollen heute auch immer mehr Menschen eine andere Welt, weil sie vom Neoliberalismus die Schnauze voll haben und nicht immer noch mehr globalen Konkurrenzkampf aller gegen alle wollen, sondern weniger.