Die EU und Vietnam stehen vor dem Abschluss des Handelsabkommens EVFTA. Die südostasiatische „Fabrik der Welt” produziert Verbraucherartikel für den Westen – und muss ein Investitionschutzabkommen hinnehmen. Das schreibt die Tageszeitung Junge Welt.
Von Stefan Kühner
Das Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Vietnam hat am Dienstag eine weitere Hürde genommen: Der Ausschuss für internationalen Handel des EU-Parlaments (Inta) stimmte mit großer Mehrheit dem „EU–Vietnam Free Trade Agreement” (EVFTA) zu. Die endgültige Verabschiedung durch das EU-Parlament steht im Februar an. Über die Verträge war acht Jahre verhandelt worden. Es ist die umfassendste Übereinkunft, die Brüssel mit einem Land, das nicht zu den führenden Wirtschaftsnationen gehört, abgeschlossen hat.
Neben Singapur ist Vietnam der zweite Staat der ASEAN-Gruppe (Verband Südostasiatischer Nationen), mit dem die EU einen solchen Vertrag unterzeichnet hat. Deren weitere Mitglieder sind Brunei, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen und Thailand. Mehrere dieser Länder sehen in EVFTA eine Vorlage für eigene Abkommen. Die EU setzt auf Bestimmungen mit der gesamten ASEAN-Gruppe. In den Mitgliedsstaaten leben etwa 600 Millionen Menschen.
Für die EU, allen voran Deutschland, hat das Abkommen mehr als nur Pilotcharakter. Vietnam ist mit einem jährlichen Wirtschaftswachstum von sechs bis sieben Prozent eines der dynamischsten Länder der Region. Deutschland ist sein wichtigster Handelspartner in Europa. Beide Länder haben eine Vereinbarung über eine strategische Partnerschaft abgeschlossen. Die politischen Beziehungen sind nach einigen Turbulenzen über die angebliche oder tatsächliche Entführung des Wirtschafts- und Politfunktionärs Trinh Xuan Thanh im Jahr 2017, der 2018 in Vietnam wegen Korruption und Misswirtschaft verurteilt wurde, wieder sehr gut.
Eigentlich sollte das EVFTA nach dem Willen Vietnams schon längst in Kraft sein. Seine Verabschiedung war in der vergangenen Wahlperiode von mehreren EU-Parlamentariern verzögert worden. Ein Grund dafür war die fehlende Ratifizierung einiger Vereinbarungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), wie zum Beispiel die wichtige „Konvention Nr. 98” zu „Organisationsfreiheit von Arbeitnehmern”. Vietnam ratifizierte diese Übereinkunft zusammen mit einigen anderen ILO-Konventionen im Oktober 2019 und machte damit den Weg für das Abkommen frei.
Sondergericht für Investitionsschutz
Das EVFTA umfasst 17 Kapitel, zwei Protokolle und eine Reihe von begleitenden Absichtserklärungen über den Handel mit Waren und Dienstleistungen, Investitionen, handelspolitische Abhilfemaßnahmen, Wettbewerb, staatliche Unternehmen, öffentliches Beschaffungswesen und geistiges Eigentum. Was die Zölle betrifft, so wird die EU nach Inkrafttreten des Abkommens mehr als 99 Prozent der Zolltarifpositionen innerhalb von sieben Jahren abschaffen. Wie alle „Freihandelsabkommen“, die derzeit diskutiert und abgeschlossen werden, enthält auch das EVFTA ein Investitionsschutzabkommen, das die Interessen der Konzerne absichert. Im Falle des Vietnam–EU-Vertrags haben sich beide Parteien dazu bereit erklärt, ein ständiges Gericht einzusetzen, um solche Probleme zu behandeln. Dies schützt nicht nur die Investoren, sondern beinhaltet auch das Recht eines Landes, die Umsetzung des Abkommens zu überwachen.
90 Prozent der Exporte Vietnams kommen aus der Leichtindustrie (Kleidung, Schuhe, Elektronikartikel) und der Landwirtschaft (Reis, Kaffee, Nüsse, Gewürze, Fisch, Garnelen und Holz). Vietnam hatte es nach 1986 mit „Doi Moi”, einem Wirtschaftskonzept, das auf Eigeninitiative setzt, geschafft, seine Wirtschaft anzukurbeln. Die Armutsrate wurde seit 1990 von 75 Prozent auf circa acht Prozent gesenkt.
Der wirtschaftliche Aufschwung geht im wesentlichen auf die Produktion von Verbraucherartikeln zurück, die US-amerikanische, asiatische und vor allem europäische Konzerne in Vietnam fertigen lassen. Das Land kann darauf noch nicht verzichten. Es ist das Konzept „Fabrik der Welt” mit billigen Lohnkosten. Den größten Nutzen ziehen daraus die internationalen Konzerne. Die Handelsverhältnisse sind allerdings labil, was vor allem die durch die USA vorangetriebenen protektionistischen Maßnahmen wie Schutzzölle zeigen. Vietnam will durch Handelsabkommen Zölle beseitigen und damit mehr Ware preisgünstiger liefern. Als vom Weltmarkt extrem abhängiges Land will Vietnam langfristige, sichere Handelsbeziehungen und sieht diese positiv, anders als dies von manchen Organisationen hierzulande bewertet wird. Der vietnamesische Botschafter in Deutschland, Nguyen Minh Vu, sagte am Montag der Deutschen Welle: „Im Kontext von Handelsstreitigkeiten und wachsendem Protektionismus ist das Abkommen ein starkes Signal beider Seiten für den freien Handel.”
Mehr zum Abkommen finden Sie hier – mit Link zu einer ausführlichen Studie