Derzeit bricht die Weltwirtschaft regelrecht ein. Das Ende des Desasters ist nicht abzusehen. Wir müssen uns darüber ins Vernehmen setzen. Und wir müssen uns auf die kommenden Verwerfungen und die Angriffe auf unsere Leben vorbereiten. Das schreibt Klaus Klamm im Schweizer Ajour-Magazin für autonomen Journalismus.
Das neue Corona-Virus hat weite Teile der Welt fest im Griff. Während in Italien die Lage weiter eskaliert und massenhaft Menschen sterben, nehmen auch in der Schweiz die Fallzahlen rapide zu. Auch das hiesige Gesundheitssystem wird weit über Kapazitäten belastet, das steht mittlerweile fest. Die Regierung hält Pressekonferenzen im Akkord ab und schränkt das öffentliche Leben sukzessive ein.
Gefängnisinsass*innen werden gezwungen, hektoliterweise Desinfektionsmittel abzufüllen, dürfen es aber selber nicht benutzen. Von Flughäfen heben Flugzeuge ohne einen einzigen Passagier ab, damit die Airlines ihre Flug-Slots nicht verlieren. Vielerorts sind Toilettenpapier, Fiebermesser und Laptops Mangelware. Der Chef der SBB rät, den öffentlichen Verkehr zu meiden. Auf Spitalangestellte, aber auch auf Care-Arbeitende kommt ein Tsunami an Überstunden zu. Währenddessen haben Taxifahrer*innen, Stagehands und Servicepersonal kaum mehr ein Einkommen.
Was hat das alles gemein? All dies sind News aus jener Welt, die gemeinhin als «Wirtschaft» bezeichnet wird. Es sind offenbar Dinge, die geschehen, wenn eine Pandemie auf eine kapitalistische Wirtschaft trifft.
Warum wir schon heute über die Krise reden müssen
Wieso sollte man sich aber in dieser akuten und brutalen Situation dazu überhaupt Gedanken machen? Dafür gibt es mindestens zwei triftige Gründe:
1.
Momentan entstehen an vielen Orten Nachbarschaftshilfen und Solidaritätsgruppen, fundamentale Fragen werden diskutiert. Es wird in der Hochphase der Epidemie wichtig sein, dass man Risikogruppen, aber auch Arbeitende im Gesundheitswesen unterstützt. Darüber hinaus müssen wir in den neuen Gruppen aber auch dafür werben, dass man die ganze Entwicklung politisch versteht und sich längerfristig organisiert. Denn mitten im Corona-Unwetter zieht ein weiterer Sturm auf: Eine ökonomische Krise ungesehenen Ausmaßes. Und ihr folgen Angriffe auf unsere Arbeits- und Lebensbedingungen auf den Fuß.
2.
Die Produktion aller Güter für unser Leben ist kapitalistisch organisiert. Sie werden hergestellt, um damit Geld zu verdienen. Wir sind aber nicht nur Gegner*innen dieser Wirtschaftsweise, sondern zugleich auf Gedeih und Verderben auf sie angewiesen – bis wir sie gemeinsam überwunden haben. Eine Krise des Kapitalismus heißt ab einer gewissen Tiefe nicht «nur», dass die Arbeitslosenzahlen nach oben schnellen und das Leben vieler Menschen sich dramatisch verschlechtert, sondern dass es auch zu Engpässen bei der Versorgung kommt. Dies kann man bei bestimmten Medikamenten bereits beobachten. Außerdem wissen wir spätestens aus der Krise nach 2008, dass wirtschaftliche Verwerfungen auch durch Hunger, Armut, Kriege oder schiere Verzweiflung Menschleben fordern.
Darum soll hier erklärt werden, wie tief der kommende Fall werden könnte und weshalb wir uns unbedingt dafür wappnen müssen. Vieles ist noch spekulativ, aber es zeichnet sich bereits einiges deutlich ab.
Alles wacklig: viel Geld, viele Schulden, wenig Profit
In China sind die Exporte während der Epidemie in den letzten beiden Monaten um über 17 Prozent eingebrochen, während die Industrieproduktion um 13,5 Prozent schrumpfte. Das ist in einer kapitalistischen Wirtschaft einschneidend. Denn diese ist auf Wachstum angewiesen, damit alles halbwegs rund läuft.
China ist die zweitgrößte Wirtschaftsnation der Welt. Diese Einbrüche allein würden ausreichen, um die Weltwirtschaft in arge Bedrängnis zu bringen. Nun stehen Europa und die USA aber erst noch an und auch die restliche Welt zählt mehr und mehr Fälle von Covid-19. Zudem ist eine zweite Welle in China laut Epidemiolog*innen wahrscheinlich, wenn die Produktion wieder hochgefahren wird.
Das wäre an sich schon dramatisch genug. Doch die Pandemie trifft auf keine vitale Wirtschaft, sondern auf eine Welt, die schon lange in der Krise steckt. Auf eine Welt in der die Profitabilität, also das was ein Unternehmen mit seinem Einsatz an Gewinn machen kann, bereits sehr niedrig war. Und auch auf eine Welt, in der die Zentralbanken im großen Stil Dollar, Euro und Franken in die Märkte pumpen. Damit versuchen sie spätestens seit dem letzten großen Finanzcrash von 2008 das System am Laufen zu halten. Und dennoch hat sich erst kürzlich die Aussicht wieder einmal eingetrübt.
Nach den Abstürzen in den vergangen Tagen und Wochen und angesichts der verzweifelten Notenbanken und Regierungen fühlt man sich an jenen Crash von 2008 erinnert. Einiges ist auch tatsächlich ähnlich.
Laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) sind 13 Prozent der Firmen weltweit sogenannte Zombiefirmen. Sie überleben nur, weil sie sich immer neu verschulden, um Zinsen und Schuldlast zu begleichen. Das können sie wiederum nur dank dem billigen Geld und den tiefen Zinsen der Zentralbanken.
Ihre Schulden werden in komplizierte Finanzpapiere gebündelt und verkauft. Dies wurde vor dem Crash 2008 mit ähnlich wackligen Schuldforderungen im Immobilienbereich gemacht. Das war damals der direkte Auslöser des Crashs.
Der Schuldenberg rund um den Globus beläuft sich auf etwa 250 Billionen Dollar. Das ist drei Mal mehr als die Wirtschaftsleistung der gesamten Welt. Die hohe Verschuldung galt schon nach dem letzten Crash als wichtige Grundlage für die Krise. Sie lag damals aber deutlich tiefer als heute.
Auch weitere Probleme von 2008 wie wacklige Banken oder ein überhitzter Immobiliensektor bestehen weiter fort. Es ist also vieles instabil, die Zentralbanken halten den ganzen Laden mit Unsummen zusammen.
Selbst die NZZ schrieb, dass die ständigen Interventionen der US-amerikanischen Zentralbank eine «systemfremde Dauereinrichtung» sei. Dies nachdem diese im Herbst 2019 mal wieder mit dreistelligen Milliarden-Beträgen existenzbedrohende Verwerfungen aufgefangen hatte – und zwar auf dem wichtigen Markt für sogenannte Repo-Kredite, der nach 2008 für den Beinah-Infarkt des Finanzsystems verantwortlich war.
Eindämmung rettet Leben und bremst die Wirtschaft aus
Wir sehen also viele Ähnlichkeiten. Und wir müssen das aktuelle Schlamassel auch in der Kontinuität der Krise nach 2008 verstehen. Aber es gibt in der aktuellen Krise auch wichtige Differenzen. Und sie machen allesamt wenig Hoffnung für die Wirtschaft: Der aktuelle Schock zeigt sich zwar an den Verwerfungen an der Börse, aber er hat seinen Auslöser in unterbrochenen Lieferketten, Produktionsausfällen und einer krassen Reduktion der Nachfrage. Wenn nun einige schreiben, dass nicht das Coronavirus Grund der Krise sei, dann haben sie zwar halbwegs recht, wenn man die obigen Faktoren kennt – aber eben nur halbwegs.
Der französische Ökonom Pierre-Olivier Gourinchas hat in einer Modellierungsstudie berechnet, dass die drastischen Eindämmungs-Maßnahmen, wie sie in China oder Singapur ergriffen wurden, die wirtschaftlichen Aktivitäten krass abbremsen: Im ersten Monat um die Hälfte und in einem weiteren Monat um 25 Prozent. Die Folgen sind heftig: Der Rückgang der Wirtschaftsleistung – des berühmten Bruttoinlandprodukts (BIP) – würde fast 10 Prozent betragen.
Laut dem Professor der UC Berkeley sind die Zahlen aber nur für eine «perfekte Welt» gültig. Für eine konstruierte Welt in der die oben beschriebenen Probleme nicht existieren, in der alle rational handeln und in der es nicht zu einer Verkettung von Unglücken etwa in den komplexen Lieferketten kommt. Zugleich sind einige Faktoren – etwa die konkreten staatlichen Epidemie-Maßnahmen – noch nicht en Detail klar. Nehmen wir der Einfachheit halber die 10 Prozent aus der Modellierungsstudie an. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel stützt diese Einschätzung ungefähr, es rechnet im schlimmsten Fall mit einem Konjunktureinbruch von neun Prozent.
Zum Vergleich: In der «großen Rezession» im Jahr nach dem Crash von 2008 schrumpfte die Wirtschaft in den «entwickelten» Staaten um etwa 4,5 Prozent (in der Schweiz um 1,6 Prozent). Die Folgen waren verheerend. Die Arbeitslosenzahlen schossen in die Höhe. Die Sozialausgaben wurden zusammengestrichen. Ganze Länder wie Griechenland wurden ins Elend gestoßen. In der Ukraine eskalierte ein Krieg.
Noch mag sich niemand öffentlich ausmalen, was die immensen menschlichen Kosten einer Rezession wären, die doppelt so stark zu Buche schlägt. Ökonom Gourinchas wirbt nun dafür, dass man – wie bei der Pandemie – auch wirtschaftlich die Welle mit staatlichen Maßnahmen glättet.
Die Krise, die Staatschulden und das große Sparen
Aber ist das überhaupt noch möglich? Die Zentralbanken haben schon sehr, sehr viel Pulver verschossen und ihre Zinssätze liegen auf historisch niedrigem Niveau. Dadurch können sich die Banken billig Geld leihen. An den Produktionsausfällen und dem Einbruch der Nachfrage ändern die Billionen aber erst mal wenig, auch wenn sie Firmen über die erste harte Zeit helfen können.
Die US-Zentralbank hat als erste Maßnahme Mitte März schon mal 1,5 Billionen Dollar locker gemacht, um einige Tage darauf nochmals 300 Milliarden nachzulegen. Das ist deutlich mehr als die gesamte Schweizer Wirtschaft in zwei Jahren in Geld gemessen leistet. Die Zunft der Ökonom*innen ist zerstritten darüber, wie viel Pulver die Zentralbanken noch haben. Möglicherweise werden wir bald sehen, wie es ausgeht und das Kartenhaus zusammenfällt.
Die Nationalstaaten schnüren derweil Rettungspakete, um das Gröbste zu verhindern. Allerdings scheinen das erstmal panische Alleingänge. Bundesrat Alain Berset hat an einer Pressekonferenz zum ursprünglich vorgesehenen Paket von 10 Milliarden Franken gesagt: «Wir wissen, dass es noch mehr braucht» und liess die Summe wohl weisslich offen. ETH-Forschende mit ökonomischem Sachverstand forderten kurz darauf einen 100-Milliarden-Fonds für die akute Situation. Mittlerweile hat der Bundesrat 42 Milliarden zugesichert.
In den USA wurde ein historisch beispielloses Paket über rund 1,2 Billionen Dollar geschnürt. Zudem sollen in den nächsten zwei Wochen über 1000 Dollar an alle amerikanischen Bürger*innen verschickt werden. Das sogenannte Helikoptergeld wird aber nach einem Steuerschlüssel verteilt, die Armen erhalten weniger Cash als besser Verdienende. In ganz Europa werden gerade eifrig Pakete geschnürt. Deutschland sieht offenbar eine Neuverschuldung von rund 150 Milliarden Euro sowie einen Rettungsschirm von bis zu 600 Milliarden vor.
Das wird alles die Staatshaushalte stark belasten, während zugleich die Steuereinnahmen einbrechen werden. Italien, das hart von der Pandemie getroffen wird, ist bereits mit über 125 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verschuldet. Frankreich und Spanien mit etwa 99 beziehungsweise 95 Prozent ihres BIPs. Die Länder müssen dennoch große Rettungspakete für die Wirtschaft versprechen.
Die Schweiz steht zwar mit einer Staatschuld von etwa 40 Prozent des BIP relativ gut da. Die gesamte private Verschuldung liegt aber bei 247 Prozent des BIP, dabei fallen vor allem die privaten Haushalte ins Gewicht. Wir erinnern uns: In der Schweiz werden selbst Sparmassnahmen durchgeboxt, wenn der Haushalt einen Überschuss verzeichnet, wenn also der Staat mehr einnimmt als ausgibt. Dasselbe Spiel in Deutschland.
Der Sprecher des Kapitals: «Es ist wie im Krieg»
Schon jetzt, aber erst recht, wenn sich die Corona-Angst verzogen hat, wird der Virus als Argument herhalten müssen. «Nun müssen alle den Gürtel enger schnallen», wird es heißen. Bereits fordert die NZZ «Lohnopfer» von den Angestellten des Bundes und der Kantone. Wir kennen dieses Muster, haben es immer wieder gesehen. Besonders deutlich nach 2008. Den Gürtel enger schnallen sollen vor allem die Lohnabhängigen und jene, die vom Sozialstaat abhängig sind.
Es kann allerdings sein, dass angesichts der schieren Dimension der aktuellen Krise, ein Kurswechsel ansteht. Donald Trump hat in den USA diverse sozialstaatliche Maßnahmen implementiert und natürlich zugleich die nationale Karte gespielt. In Europa reden verschiedene Regierungsvertreter bereits von Verstaatlichungen. Wie weit das reine Propaganda ist und welche hässlich-nationalistische Wendung das noch nehmen könnte, wird die Zukunft zeigen müssen.
Was aber wohl unvermeidlich ist: Es werden viele Firmen Konkurs gehen, viele Lohnabhängige werden ihr Einkommen verlieren, Vermögen wird vernichtet werden – ein Prozess der im Kapitalismus auch eine Bereinigung der Widersprüche ist. Das Kapital wird alles daran setzen, gestärkt aus dem Schlamassel herauszukommen. Dazu wird auch beitragen, was der britische Journalist Jeremy Warner offenherzig für das Gesamtkapital aussprach: «Covid-19 könnte sich aus einer völlig uninteressierten wirtschaftlichen Perspektive langfristig sogar als leicht vorteilhaft erweisen, indem es unverhältnismässig viele ältere Angehörige tötet.»
Der neoliberale Star-Ökonom Kenneth Rogoff sagte in einem Interview mit N-TV zudem kürzlich, was wohl viele seiner Zunft denken: «Es ist wie im Krieg». Italien wende 16 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Renten auf, ergänzte er und beschrieb damit den Frontverlauf. Dieser Krieg hat einen Namen: Klassenkampf. Das Kapital hat seine Kanonen in Stellung gebracht.
Zugleich werden wir vermutlich auch wirtschaftliche Prozesse erleben, die wir noch nie gesehen haben: In China stiegen in den letzten Wochen die Preise für Lebensmittel teilweise um 25 Prozent. Angesichts der Tiefe des Falls, der Dauer der Maßnahmen und der Wiederkehr des Virus wird man möglicherweise auch mit Engpässen bei der Versorgung rechnen müssen. Und je weiter die Zerstörung der Produktionsstruktur und die Unterbrüche der Lieferketten, desto schwerer wird es, den Laden wieder hochzufahren.
Auf all dies müssen wir uns vorbereiten. Darum sollte man in den heutigen Nachbarschaftshilfen, im Freundeskreis und in Diskussionsgruppen dafür Werbung machen, dass wir uns längerfristig zusammensetzen. Dass wir uns das nicht gefallen lassen. Und dass wir endlich Schluss machen mit dem Kapitalismus. Die gewaltigen Verwerfungen erfordern radikale Antworten.
Interessante Beiträge zur Corona-Pandemie und gesellschaftlichen Entwicklungen finden sich auch auf der Website Solidarisch gegen Corona.