Die Sorge um die Mitmenschen bleibt lokal, das politische Handeln national: Die Solidarität, auf die sich europäische Gesellschaften derzeit einschwören, findet in altbekannten Mustern statt. Sie offenbart Verlogenheit und doppelte Standards. Ein Beitrag von Stephan Lessenich in der Schweizer Wochenzeitung WOZ.
Wie überall in Europa herrscht seit einigen Wochen auch in Deutschland Kaiser Corona. Und wie es sich für einen anständigen Kaiser gehört, kennt er keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche – keine Interessenkonflikte, sondern allein die Einheit der Nation.
Das Verblassen der Parteien findet durchaus nicht jede und jeder gut: Der allfällige Schulterschluss von Regierung und Opposition, die schrittweise Aushöhlung demokratischer Rechte durch das Dispositiv des Ausnahmezustands und die Machtübernahme der VirologInnen im „Krieg” gegen einen „unsichtbaren Feind” sind nicht allen geheuer. Namentlich die Einschränkungen des Bürgerrechts auf Bewegungsfreiheit, der postkolonialen Tourismusnationen liebste Errungenschaft, werden argwöhnisch registriert. Nicht zufällig kommt daher den Rückholaktionen für westliche Weltreisende, die als Pauschaltouristinnen oder Backpacker in ihren südlichen Urlaubsreservaten gestrandet sind und ihrer Notlage vor laufenden Fernsehkameras mitleiderregenden Ausdruck geben dürfen, große öffentliche Aufmerksamkeit zu.
Bei der Sache mit den Deutschen – wahlweise auch anderen Nationalitäten – sind praktisch alle einer Meinung. Nicht nur die „einfachen Leute”, auch die sozialwissenschaftliche Feuilletonprominenz denkt in der Coronakrise in den Grenzen der eigenen, nationalen Lebenswelt. Ob sich die wie nie zuvor gefragte Deutungselite nun um den sozialen Zusammenhalt in Zeiten von Corona sorgt („Die Angst macht uns zu wilden Egoisten”, Soziologe Heinz Bude) oder aber diesen Zusammenhalt gerade neu im Entstehen begriffen sieht wie einst im angeblichen „Miteinander der unterschiedlichen Klassen in den Luftschutzbunkern” (Soziologe Steffen Mau): Fast immer geht es um die kirchturmpolitische Frage, was das weltweit sein Unwesen treibende Infektionswesen mit „uns” macht.
Klatschen für die Volksgesundheit
In der unschönen neuen Welt des Coronavirus kommt der Solidarität unverhofft wieder zentrale gesellschaftliche Bedeutung zu. Einer Solidarität freilich, die ihrer politischen Spitze beraubt ist. „Solidarität”, das heißt nun, zu den anderen auf Distanz zu gehen, sich im Wohnblock beim Einkaufen auszuhelfen, für sich und den Freundeskreis in Heimarbeit Atemschutzmasken zu nähen; Solidarität meint, den Mittelstand zu retten, Kreditlinien für Selbstständige zu erweitern, den heimischen Kernindustrien unter die Arme zu greifen. Ach so, und natürlich Pflegepersonal und Supermarktkassiererinnen – den CoronakriegsheldInnen für einen Tag – zu applaudieren, aus der sicheren Entfernung des Balkons oder Facebook-Accounts. Auf dass den ClaqueurInnen und dem unterbezahlten Dienstleistungsproletariat gleichermaßen warm ums Herz werde.
Solidarität steht hoch im Kurs – doch sozial bleibt sie lokal, und politisch endet sie verlässlich an den Staatsgrenzen. Der Deutsche Ethikrat beispielsweise, ein unabhängiges Sachverständigengremium, das sich seinem Selbstverständnis gemäß mit den „großen Fragen des Lebens” beschäftigt, macht seinem Namen alle Ehre und versteht die aktuellen normativen Probleme konsequent als nationale Fragen. In seiner vor wenigen Tagen veröffentlichten „Ad-hoc-Empfehlung” mit dem Titel „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise” drehen sich die ethischen Erwägungen ausschließlich um „unsere Gesellschaft”, die vor ungeahnten Herausforderungen stehe – eine Welt um uns herum scheint es nur insoweit zu geben, als von irgendwo da draussen der Erreger des nunmehr herrschenden „epidemiologisch begründeten Imperativs” gekommen ist.
„Jedes menschliche Leben genießt den gleichen Schutz”: Hinter den großen Worten des Deutschen Ethikrats steht die unausgesprochene Leseanleitung, dass es bei dieser vermeintlich universellen Norm tatsächlich um Menschenleben in Deutschland geht. Nichts hat der Rat dazu zu sagen, dass die Bundesregierung im Eifer des Coronagefechts nichts Eiligeres zu tun hatte, als das Aufnahmeprogramm für Flüchtlinge zu stoppen. Kein Wort darüber, dass Deutschland und die EU an deren Außengrenzen einen „Cordon sanitaire” errichtet haben, der – die Volksgesundheit ist das höchste Gut! – die vor menschenunwürdigen Lebensverhältnissen Flüchtenden zu Tausenden in den Tod gehen lässt und im Zuge von Corona zu einem „Cordon homicidaire” ungeahnten Ausmaßes zu werden droht.
Solidarität? Auch die hat derzeit, wie wir alle, daheim zu bleiben. Die unter der Epidemie ächzenden „Partnerstaaten” Italien und Spanien mit europäischen Coronabonds unterstützen? Als ob Deutschland und seine Koalitionäre in Österreich, Finnland und den Niederlanden die eigenen Zinsprivilegien sozialisieren würden, die sie sich doch durch die wettbewerbliche Ruinierung der (offizielle Redeweise: „nicht haushalten könnenden”) Länder an der europäischen Peripherie hart erarbeitet haben. Die Lager in Libyen und der Türkei, in Calais und auf Lesbos, wo viele Tausende Menschen teils seit Jahren unter unsereins unvorstellbaren Bedingungen „leben” müssen, jetzt endlich räumen? Wäre ein falsches Signal an den transnationalen Flüchtlingsmarkt, würde den Wert der europäischen Staatsbürgerschaft sinken lassen. Täglich werden nun die Coronainfizierten gezählt, die nationalen Öffentlichkeiten halten den Atem an ob der neusten Zahl der Todesfälle – wo bitte schön ist aber die fortlaufend aktualisierte Grafik, die die Toten des europäischen Grenzregimes, die Opfer unserer imperialen Lebensweise zählt? Und hat das Robert-Koch-Institut, das in Deutschland die amtliche Epidemiestatistik führt, jemals den Blutzoll der kolonialen Gesundheitsexperimente seines Namensgebers beziffert?
Das Horten der Nationen
In Zeiten von Corona wird unmissverständlich deutlich, wie verlogen die europäischen Gesellschaften sind, wie sie konsequent mit doppelten Standards operieren. Und das, wo sie doch für all die Krisen, die der Welt zuletzt widerfahren sind, maßgeblich selbst verantwortlich zeichnen. Die demokratischen Nationen des „Westens” sind als kapitalistische Beutegemeinschaften verfasst. Ihre wirtschaftliche Produktivität beruht auf einer sozial-ökologischen Destruktivität, die seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, zuallererst der Rest der Welt zu spüren bekommt. Die vollkommen irrationale Rationalität ihrer Produktions- und Konsumweisen bringt jene Verwerfungen hervor, die die Welt in Atem halten – Finanz- und Migrations-, Klima- und Pandemiekrisen – und bei denen am Ende jene das größte Leid davontragen, die zu diesen Verwerfungen am wenigsten beigetragen haben.
Woanders sterben die Leut – daheim hingegen wird sich in „Solidarität” ergangen. Da werden auf einmal die sozial „Vulnerablen” entdeckt, die es um jeden Preis zu schützen gelte. Damit sind freilich nicht die durch postsozialdemokratische „Sozialreformen” gesellschaftlich Marginalisierten, die am untersten Ende der Sozialhierarchie schuftenden ArbeitsmigrantInnen oder die in Bundesasylzentren um ihr Aufenthaltsrecht bangenden Asylsuchenden gemeint, sondern: „die Alten”. Jene soziale Pseudogruppe also, die bis vor kurzem noch pauschal als Kostgängerin der „jungen Generation” etikettiert wurde und die nun – neuerlich unabhängig von Ungleichheitskategorien wie Einkommen, Bildung, Wohnverhältnissen – medizinisch als schützenswerte Risikogruppe homogenisiert wird.
Läutet die Coronakrise damit nun die Wende zur sozialen Würdigung auch vermeintlich „unproduktiver” Lebensformen ein? Stellt sie den Startschuss dar für eine Ökonomie des Lebensnotwendigen, „für ein Projekt des Lebens und der Sorge umeinander”? Zumindest als gesellschaftliche Möglichkeit sieht dies der jüngst in dieser Zeitung veröffentlichte, mitreißend (zweck-?)optimistische Beitrag von Raul Zelik (siehe WOZ Nr. 14/2020). Die Krise werfe „zentrale Fragen” auf und lasse „die notwendigen Lösungen aufblitzen”.
Das wird hoffentlich so sein, für die Frage der Solidarität aber gilt Letzteres wohl eher nicht. Denn gerade die Coronagesellschaft erscheint gefangen im nationalen Solidarismus, im volks-gemeinschaftlichen Modus des „Rette sich wer kann”. Man kann das gerade viel zitierte Klopapierhamstern wahlweise „drollig” (Zelik) finden oder als analfixiert deuten. Nicht zuletzt dürfte es Ausdruck des Notwendigkeitsempfindens jener sozialen Klassen sein, die einen potenziellen Versorgungsnotstand tatsächlich zu fürchten hätten – während dort, wo die gehobenen Stände zu Fuß hingehen, sicher immer ausreichend Feuchttücher auf ihren Allerwertesten warten werden.
Vor allem aber verdeckt die öffentliche Aufmerksamkeit für die individuellen HamsterInnen ein ungleich relevanteres Problem, nämlich das Horten der Nationen: Das, worüber sich die politisch-ökonomischen Eliten wahlweise belustigt zeigen oder ehrlich empören, betreiben sie im großen Stil selbst, indem sie die Lebens- und Überlebenschancen im Pandemiebewältigungswettbewerb für „ihre” Bevölkerungen zu sichern – und wo möglich zu monopolisieren – versuchen.
Wenn jedoch „Solidarität” notwendig auf Kosten Dritter gehen muss, wenn ihre Exklusivität nicht einmal mehr mitgedacht, geschweige denn problematisiert wird – dann ist sie eben keine. Konsequenter Globalismus statt Klopapiernationalismus: Das ist keine Frage linken Gutmenschentums oder eines naiven Utopismus, sondern in der Tat eine Frage des Überlebens. Und zwar nicht nur einzelner Nationen, sondern der Weltbevölkerung als ganzer. Der Schrumpfsolidarismus des „sozialen Zusammenhalts” gehört endgültig auf den Misthaufen der Geschichte. Solidarisch ist, wer sich an diesem politischen Entsorgungseffort nach Kräften beteiligt.
Der Soziologe Stephan Lessenich (55) ist Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Breite Aufmerksamkeit fand sein Buch „Neben uns die Sintflut” (2016), in dem sich Lessenich mit den externalisierten Kosten des westlichen Wohlstands beschäftigt. In „Grenzen der Demokratie” (2019) entwirft er Perspektiven für eine solidarische, inklusive und nachhaltige Demokratie.