Wer zahlt für die Krise? Wer nicht? Und wer belastet hier eigentlich wen?
Die Corona-Krise ist eine Hochphase des Lobbyismus. Klar, für die Unternehmen ist die Situation derzeit alles andere als einfach. Aus der Lobby dringen daher aktuell laute Rufe in Richtung Politik. Die einen fordern staatliche Hilfe, Konjunkturprogramme und Rettungspakete. Andere fordern Steuersenkungen und Ausgabenstopps, am besten alles gemeinsam. Besonders beliebt ist die Forderung, nun jegliche Belastungen für Unternehmen zu stoppen. Die Rede ist dann von einem sogenannten „Belastungsmoratorium“. Dabei ist die Forderung alles andere als unproblematisch – und auch nicht besonders neu. Worum geht es? Diese Frage beantwortet Timo Lange von der NGO LobbyControl.
Belastung oder Gemeinwohl?
Wenn die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft nach einem „Belastungsmoratorium“ rufen, meinen sie damit, dass die Politik nun endlich aufhören solle, die Unternehmen mit Steuern, Regeln und Gesetzen zu gängeln. Anders formuliert: Wer einen Belastungsstopp fordert, meint damit allzu oft, dass Ziele wie Umwelt- oder Datenschutz oder eine solidarische Finanzierung öffentlicher Aufgaben nun das freie Wirtschaften der Unternehmen bitte nicht mehr behindern sollen.
Dabei ist es eine Kernaufgabe der Politik im Sinne des Gemeinwohls, Ziele wie den Schutz der Umwelt oder der Privatsphäre sowie sozialen Ausgleich gegen Wirtschaftsinteressen abzuwägen und durchzusetzen – auch in der Krise. Die Forderung nach einem Moratorium ist dagegen ein Totschlagargument, das gegen jegliche ausgewogene und gemeinwohlorientierte Politik ins Feld geführt werden kann.
Sechs der großen Wirtschaftsverbände forderten in einem Brief an Finanzminister Scholz, Wirtschaftsminister Altmaier und Kanzleramtschef Braun Anfang Mai genau ein solches Belastungsmoratorium: „Zusätzliche Belastungen durch Steuererhöhungen, neue Steuern und Sonderabgaben zur Finanzierung der Krisenkosten wären absolut kontraproduktiv und sollten daher unterbleiben. Dies gilt auch für zusätzliche administrative Zusatzbelastungen, die in dieser Krisensituation vermieden werden müssen“, heißt es in dem Brief, der von BDI und BDA, dem Zentralverband des Deutschen Handwerks, dem Bundesverband deutscher Banken sowie dem DIHK unterzeichnet ist. Auch die AG Mittelstand des Handelsverbands Deutschland HDE, in der zehn Verbände vertreten sind, fordert Ende April ein Belastungsmoratorium.
Vorfahrt für Wachstum
Deutlich konkreter wird der Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft ZAW. Bereits Anfang April forderte der Verband einen „Belastungs-TÜV“. Die Politik solle sicherstellen, dass „bestehende oder vor der Krise geplante Gesetze und Regelungen, die hemmende Wirkungs entfalten […] aussortiert werden und wachstumsfreundlichen Konzepten und Maßnahmen Vorfahrt eingeräumt wird.“
Konkret stört sich der Verband an den „datenschutzrechtlichen Bestimmungen des Telemediengesetzes“ und der geplanten europäischen E-Privacy-Verordnung. „Letztere gefährdet nach Ansicht des ZAW die Geschäftsmodelle der meisten Unternehmen in der Werbebranche mit Ausnahme der großen Plattformbetreiber. Deswegen lobbyiert der Verband auch schon lange gegen das Gesetzesvorhaben“, schreibt das Branchenblatt Horizont. Die Diskussion um einzelne Regelungen im Datenschutz ist zwar legitim, nun nutzen Lobbyakteure der ZAW aber die Corona-Krise, um mit der Forderung nach einem Belastungsmoratorium gegen jegliche Weiterentwicklung des Datenschutzes und eine ausgewogene Debatte vorzugehen.
Offenes Ohr bei der Groko
Bei der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD scheinen die Verbände mit ihren Forderungen nach einem „Belastungsmoratorium“ durchaus Gehör zu finden. „Konkret will die Union alle Auflagen beiseite räumen, die vermeintlich die wirtschaftliche Erholung gefährden könnten“, ist in der Süddeutschen Zeitung am 8. Mai zu lesen. Im Koalitionsausschuss hatte es demnach genau wegen diesem Punkt gekracht. Aber einigen konnte man sich dann wohl doch auf eine etwas verschwurbelte Formulierung: Am 22. April beschlossen die Koalitionäre, künftig „besonders darauf zu achten, Belastungen für Beschäftigte und Unternehmen durch Gesetze und andere Regelungen möglichst zu vermeiden.“
Die Gleichsetzung zwischen Beschäftigten und Unternehmen in dieser Formulierung ist wenig überzeugend:Anliegen der Beschäftigten sind mitunter nicht ganz deckungsgleich mit den Interessen der Unternehmensführung und der Anteilseigner. Vermutlich ist es der SPD zu verdanken, dass die Beschäftigten in der Formulierung überhaupt auftauchen.
Was dieser Beschluss aber bedeuten kann, zeigte sich bereits am 6. Mai, als die Unionsfraktion in einem Entwurf eines Positionspapiers forderte, Klimaschutzziele doch nun bitte erstmal hintenan zu stellen. Jürgen Resch, der Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, die das Papier veröffentlichte, kommentierte das so: „Selten wurde die Fernsteuerung einer ganzen Bundestagsfraktion einer Regierungspartei durch alte Auto- und Energiekonzerne so deutlich wie bei diesem Gruselpapier der Unionsfraktion.“
Zur Begründung ihrer Position berief sich die Unionsfraktion auf eben jenen Beschluss des Koalitionsausschusses vom 22. April.
Eine Hauptforderung des Papiers, auf europäischer Ebene neu zu verhandeln, wie viele Treibhausgase die Mitgliedstaaten jeweils ausstoßen dürfen, übernahm Bundeskanzlerin Merkel direkt. SPD-Klima- und Energiepolitikerin Nina Scheer warf der Union daraufhin vor, ein strengeres EU-Klimaziel per se torpedieren zu wollen. In der Tat ist es eine altbekannte Lobbystrategie in Klimaverhandlungen: Den Prozess verzögern, indem zunächst von anderen mehr Anstrengungen bzw. Zusagen eingefordert werden.
Agrarlobby will nicht hintenan stehen
Da der Ruf nach Belastungsmoratorien so gut anzukommen scheint, wollte offenbar auch das Präsidium des Deutschen Bauernverbands nicht hintenan stehen. Am 12. Mai forderte das Präsidium in einer Erklärung ein „Moratorium für neue, kostenintensive gesetzliche Auflagen und Standards.“ Woran sich der DBV stört, wird in der Erklärung auch aufgezählt: Die „EU-Wasserrahmenrichtlinie, die Dünge-Verordnung, EU-Regeln für Pflanzenschutzmittel und Standards in der Tierhaltung“, all dies führe zu hohen Kosten und somit zu Wettbewerbsnachteilen.
Zwar fordert der Bauernverband nicht, nun einfach alle Umweltgesetze und Standards für die Tierhaltung zu kippen. Aber „Weiterentwicklungen im Umweltschutz und Tierwohl“ könne man nur „positiv aufgreifen“, wenn eine Abwanderung der Produktion ins Ausland verhindert werde – sprich, wenn es keine neuen Auflagen gäbe. Konkret fordert der DBV eine ganze Reihe von Gesetzen und Regelungen wie die EU-Öko-Verordnung wegen der Corona-Krise zu verschieben oder aufzuweichen.
Merz und Familienunternehmer: „eine Unverschämtheit“
Geradezu widersprüchlich erscheinen auf den ersten Blick die Forderungen des Verbandes „Die Familienunternehmer“. Für Reinhold von Eben-Worlée, Präsident des Verbands reicht nämlich „ein Belastungsmoratorium nicht mehr aus“. Stattdessen sei jetzt „rigoros der Rotstift bei den Ausgaben“ anzusetzen, so der Verband in der Pressemitteilung vom 14. Mai. Ein Ausgabenmoratorium statt nur ein Belastungsmoratorium.
Unternehmen und Verbände wie „Die Familienunternehmen“ sprechen sich also einerseits für staatliche Rettungsmaßnahmen und Konjunkturpakete aus. Das kostet beides Steuergeld. Zugleich wird nach Steuersenkungen gerufen, was ja ebenfalls erst mal kostet. Wenn nun aber andererseits staatliche Ausgaben rigoros gestoppt werden sollen, wer bezahlt dann am Ende? Für CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz ist das klar. Er forderte auf Twitter, „alle staatlichen Leistungen […] auf den Prüfstand zu stellen – Subventionen ebenso wie soziale Transferleistungen“.
Für Sebastian Dullien, Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in Düsseldorf, sind solche Forderungen nach Sozialkürzungen wie vom dem Verband „Die Familienunternehmer“ und von Merz „für die echten Probleme in Deutschland schädlich und sogar eine Unverschämtheit“.
Dullien stellt klar, dass er die Stützungsmaßnahmen für Unternehmen für richtig hält. Unverschämt sei dennoch, dass gerade diejenigen, die gerade so tief in die Staatskasse greifen, jetzt schon nach Kürzungen für alle anderen rufen. Der Wirtschaftsweise Achim Truger geht noch weiter: Der geforderte „rigorose Rotstift“ sei „unglaublicher makroökonomischer Analphabetimus“.
Same Song, Different Tune
Auch wenn die Corona-Krise einiges durcheinanderwirbelt, an den derzeit stattfindenden Lobbyauseinandersetzungen und Argumentationsmustern zeigt sich, dass sich nicht alles verändert. „Die Familienunternehmer“ haben sich schon immer gegen höhere Staatsschulden eingesetzt – wie Dullien kritisiert. Friedrich Merz fand „soziale Transferleistungen“ auch noch nie so richtig gut.
Ebenso wollte der Bauernverband auch schon vor der Corona-Krise die Dünge-Verordnung nur ungern verschärft sehen und der Zentralverband der Werbewirtschaft ging gegen die E-Privacy-Verordnung auch ohne Corona vor.
Zwar mögen die Forderungen legitim seien. Doch es ist fragwürdig, die Krise nun als Chance zu sehen, um mal so richtig aufzuräumen bei den unliebsamen Regelungen und Gesetzen, die die Politik so plant. Und wenn es um die Frage geht, wer nun für die Krisenkosten bezahlt und wer profitiert, zeigen sich ebenfalls alte Muster: Unternehmenslobbyisten wollen Steuererhöhungen ausschließen, lieber sollen die Steuern gesenkt werden. Stattdessen sollen staatliche Ausgaben und soziale Leistungen auf den Prüfstand.
Das Belastungsmoratorium – ein Dauerbrenner
Ein kurzer Blick auf die letzten Jahre verdeutlicht, dass die Forderung nach einem „Belastungsmoratorium“ geradezu ein Dauerbrenner in der Lobbyszene ist. Etwa wie die Drohung mit Produktionsverlagerungen ins Ausland und Abbau von Arbeitsplätzen.
Ein „Belastungsmoratorium ist daher das Gebot der Stunde“, forderte beispielsweise die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände BDA bereits im Juni 2019. Anderes Beispiel: Im Frühjahr 2015 war es erneut der BDA, der gemeinsam mit dem BDI, dem Handwerks-Lobbyverband ZDH sowie dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag DIHK ein Belastungsmoratorium forderte. Damals sprang ihnen FDP-Chef Christian Lindner bei.
Die Forderung geht also auch ohne Corona-Krise. Die Krise verändert viel, aber die Forderung nach einem Belastungsmoratorium scheint ein echter Evergreen zu sein. Von uns kommt dagegen ein ganzer neuer Vorschlag: Ein Einseitigkeitsmoratorium für die Politik!