Wie beim Atomausstieg griff der Staat in der Coronakrise massiv in Unternehmensbelange ein. Juristen befürchten, dass Konzerne die Bundesrepublik auf Milliardensummen verklagen könnten, um verlorene Einnahmen zu kompensieren. Zu diesem Schluss kommt das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“.
Von David Bockig, 1. Juni 2020
Diese Klage hätte so nie erhoben werden dürfen, sagte die Vertreterin Deutschlands. Die Bundesrepublik habe eine Maßnahme „nach Treu und Glauben ergriffen, voll und ganz innerhalb des Rechts der Beklagten, die Gesundheit ihrer Bürger zu schützen, wie es die deutsche Verfassung vorschreibt“.
Fast vier Jahre ist es her, dass die Anwältin Sabine Konrad so vor dem Schiedsgericht der Weltbank (ICSID) in Washington argumentierte. Es ging um eine Klage von Vattenfall. Weil Deutschland nach dem Reaktorunglück von Fukushima aus der Atomkraft ausstieg, fordert der schwedische Energiekonzern Schadensersatz für die Stilllegung zweier Kraftwerke. Mit Zinsen geht es um eine Summe von mehr als sechs Milliarden Euro.
Es war nicht zuletzt die Sorge vor solchen Forderungen, die in Deutschland vor einigen Jahren Hunderttausende gegen das transatlantische Handelsabkommen TTIP auf die Straße trieb. TTIP hat sich mit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten erledigt. Doch das System privater Investorenklagen existiert weiter.
Vattenfall und Deutschland streiten mittlerweile seit acht Jahren, das Verfahren ist eigentlich weit fortgeschritten. Doch die Bundesrepublik scheint bemüht, es hinauszuzögern. Kürzlich hat sie schon zum zweiten Mal einen Befangenheitsantrag gegen die Richter gestellt, über den Anfang Juni entschieden werden dürfte. Sollte er erfolgreich sein, könnte nach SPIEGEL-Informationen die komplette Hauptverhandlung wiederholt werden.
Wenn durch Corona die Einnahmen versiegen
Ähnlich wie im Vattenfall-Verfahren könnten Staaten bald gezwungen sein, auch Maßnahmen in der Coronakrise vor einem Schiedsgericht zu verteidigen. Denn im Kampf gegen die Pandemie haben viele Länder tief ins Wirtschaftsgeschehen eingegriffen. Unternehmen schreiben Verluste oder gehen gar pleite. Halten ausländische Unternehmen solche Eingriffe für unverhältnismäßig, so können viele von ihnen sich auf Investitionsschutzabkommen berufen und vor private Schiedsgerichte ziehen.
„Ich halte Klagen gegen Einschränkungen in der Coronakrise für möglich. Da wird sicher der ein oder andere Versuch gestartet werden“, sagt Klaus Sachs. Er ist Honorarprofessor für Schiedsgerichtsbarkeit und war bis Jahresbeginn selbst Richter am ICSID. Als Beispiel nennt Sachs Klagedrohungen von Investoren in Mexiko. Dort hatte die Regierung Mitte Mai beschlossen, die Abnahme von Solar- und Windstrom einzuschränken und dies mit einem gesunkenen Energieverbrauch in der Pandemie begründet.
Längst werden unter Juristen aber auch Klagen diskutiert, die sich direkt gegen staatliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung wenden. Dafür hat die Nichtregierungsorganisation Corporate Europe Observatory zahlreiche Beispiele dokumentiert. So beschlossen El Salvador und Bolivien, dass Bürger ihre Wasserrechnungen vorerst nicht oder nur teilweise zahlen müssen – und sich so während der Pandemie ausreichend oft die Hände waschen können.
„In der Folge sahen Versorger, von denen viele in ausländischem Besitz sind und Investorenrechte haben, ihre Einnahmequellen versiegen“, heißt es in einem Kommentar der Kanzlei Hogan Lovells. Als mögliche Beeinträchtigungen von Investoren nennt der Kommentar auch Preiskontrollen bei Medikamenten und die staatlich verordnete Notproduktion medizinischer Ausrüstung. Die Großkanzlei Linklaters mahnte, Staaten hätten „nicht freie Hand, ihre Investitionsschutzverpflichtungen zu missachten, unabhängig von der Schwere der Krise, vor der sie stehen“.
Die Wahrscheinlichkeit von Klagen steigt dadurch, dass die Kosten vieler Investorenklagen inzwischen von externen Prozessfinanziererngetragen werden. Laut einer Analyse der Riesenkanzlei Freshfieldswird diese Klageindustrie „dringend benötigte Munition für klamme Prozessparteien bereitstellen und somit die Wellen von Gerichts- und Schiedsverfahren anheizen, die der Pandemie auf dem Fuße folgen“.
Die Hürden für einen Erfolg solcher Verfahren seien allerdings „ziemlich hoch“, sagt der langjährige Schiedsrichter Sachs. „Schließlich geht es um die hochrangigen Güter von Leben und Gesundheit und folgen die Staaten Empfehlungen, etwa von der WHO.“ Die Verteidigung dürfte damit leichter fallen als etwa beim deutschen Atomausstieg. Den wagte die Bundesregierung im Alleingang, nachdem sie wenige Monate zuvor noch die Verlängerung der Atomlaufzeiten beschlossen hatte.
Ein Urteil, das eine Schneise schlug
Zudem ist im System der Investorenklagen einiges ins Wanken geraten. Vor zwei Jahren entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Zuge einer Klage des niederländischen Finanzunternehmens Achmea gegen die Slowakei, dass bilaterale Investitionsschutzabkommen zwischen EU-Staaten nicht mit dem Unionsrecht vereinbar seien. Solche Streitigkeiten sollten in Europa immer vor regulären Gerichten ausgetragen werden. Als Konsequenz verpflichteten sich Anfang Mai 23 von 27 Mitgliedstaaten, diese Abkommen zu kündigen.
„Achmea hat eine richtige Schneise geschlagen“, sagt Pia Eberhardt, Handelsexpertin beim Corporate Europe Observatory. Kritiker hofften gar, das Urteil könne das Ende des Schiedsgerichtssystems einläuten. Die Bundesregierung versuchte, mit Berufung auf den Achmea-Fall auch den Vattenfall-Prozess zu stoppen. Eberhardt zufolge war das „fast historisch, weil Deutschland bisher eine glühende Verfechterin des alten Investitionsschutzsregimes war“.
Doch der Versuch scheiterte. Denn Vattenfall beruft sich auf den multilateralen Energiecharta-Vertrag, für den das Achmea-Urteil laut Gericht nicht gilt. Der schwedische Staat, dem Vattenfall gehört, hat zudem den Vertrag zur Auflösung bilateraler Abkommen nicht unterzeichnet.
Unter den Verweigerern ist auch Österreich, von wo sich eine weitere Klage gegen Deutschland anbahnt: Der Baukonzern Strabag sieht durch eine Novelle des EEG-Gesetzes seine Investitionen in deutsche Offshore-Windparks beeinträchtigt. Die drei Schiedsrichter des Verfahrens sind schon benannt, eine Forderung von Strabag liegt noch nicht vor.
Pause für alle Schiedsverfahren?
Der Grundsatzstreit über die Schiedsgerichte ist noch nicht beendet, auch der Energiecharta-Vertrag könnte bald vor dem EuGH landen. Dadurch werden Verfahren zur diplomatischen Gratwanderung, wie der Vattenfall-Prozess zeigt: Die Bundesregierung hält das Achmea-Urteil hier weiter für anwendbar – das stellte sie noch Anfang Mai in der Antwort auf eine Anfrage der Linkenfraktion klar. Demnach wäre das Schiedsgericht in Washington also gar nicht zuständig.
Der Frage, ob Deutschland eine mögliche Entschädigungszahlung dann überhaupt akzeptieren sollte, wichen die Beamten von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) aber aus. Die Bundesregierung halte „eine Spekulation über die Reaktion auf hypothetische Schiedssprüche nicht für angezeigt“ und gehe davon aus, dass sie „in vollem Umfang obsiegen“ werde. Eine mögliche Klärung des Streits vor dem EuGH oder durch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Schweden scheint Deutschland bislang nicht vorangetrieben zu haben – offiziell will sich das Wirtschaftsministerium dazu nicht äußern.
„Vattenfall wird diesen Zickzackkurs natürlich vor dem Schiedsgericht ausschlachten“, kritisiert Linkenfraktionsvize Fabio De Masi – und fordert ein klare Positionierung. „Wenn ein Schiedsspruch gegen Deutschland fällt, muss die Bundesregierung klarmachen, dass sie nicht zahlt.“ De Masi verweist auf Italien, dass bereits 2016 aus dem Energiecharta-Vertrag ausgestiegen ist. „Das sollte sich die Bundesregierung zum Vorbild nehmen.“
Solche Forderungen dürften lauter werden, falls die Corona-Pandemie tatsächlich zu neuen Milliardenklagen führt. So weit will es eine Gruppe von Experten aber erst gar nicht kommen lassen. In einem Anfang Mai veröffentlichten Appell fordert sie „ein sofortiges Moratorium aller Schiedsgerichtsklagen privater Unternehmen gegen Regierungen“. Zu den Unterzeichnern gehören der Uno-Sonderberichterstatter zu extremer Armut und Menschenrechten, Olivier de Schutter, und der Harvard-Ökonom Dani Rodrik.
Natürlich würden Investoren durch die Corona-Auflagen ihre Gewinne einbüßen, heißt es in dem Aufruf. Doch genauso stehe „jedes Unternehmen in der Gesellschaft vor einer beispiellosen Situation“. Regierungen müssten ihre Bürger ohne Angst vor Prozessen schützen können. Man appelliere an alle „Menschen mit Gewissen“ – ausdrücklich auch Anwälte und Schiedsrichter – „Menschenleben in diesem düsteren Moment für die Menschheit über Konzerninteressen zu stellen“.