Pandemie und Artenvielfalt sind nur zusammen beherrschbar

Mit dem Vertrag von Lissabon (2009) hat sich die Europäische Union dem Wirtschaftswachstum und der Wettbewerbsfähigkeit verschrieben. Und das bedeutet angesichts des vorherrschenden Wirtschaftssystems: Alles wird dem Markt untergeordnet, alles wird zur (verkäuflichen) Ware, selbst die Natur inklusive der letzten Refugien und Ökosysteme werden zu Geld gemacht. Mit verheerenden Folgen, die wir derzeit erleben.

Aufgrund von Naturzerstörung und Artensterben wächst das Risiko neuer Pandemien, warnt der Weltbiodiversitätsrat in einem Bericht für die Bundesregierung. Das weltweite Rahmenabkommen zur Bekämpfung des Artenschwunds könnte helfen – jedoch nehme es kaum jemand ernst, kommentiert Jule Reimer in einem Beitrag des Deutschlandfunks am 30. Oktober 2020.

Eigentlich müsste die Nachricht Schlagzeilen machen, mitten in dieser Corona-Pandemie, deren Erreger mit großer Wahrscheinlichkeit dem Tierreich entstammt. Mehr als eineinhalb Millionen unerforschte Virenarten leben weltweit in Wildtieren und wenn es ganz schlecht kommt, könnten 850.000 davon auf Haustiere oder Menschen überspringen. Davon gehen die Wissenschaftler des Weltbiodiversitätsrates IPBES aus, die heute mit sehr warnenden Worten an die Öffentlichkeit gingen.

Dieses Überspringen muss nicht in jedem Fall so tückisch und unberechen­bar ausfallen wie derzeit bei Sars-Cov2. Den weltweiten Ausbruch der Schweinegrippe im Jahr 2009 haben wir verhältnismäßig glimpflich überstanden. Aber es ist unübersehbar, dass die Geflügelgrippe-, die MERS- und SARS-Varianten in immer schnelleren Abständen auftreten.

Es wird Zeit, sich die Folgen bewusst zu machen

Sie tun das parallel zum immer schnelleren Rhythmus, mit dem der moderne Mensch weltweit mit Bergbau, Viehzucht und Ackerbau ursprüngliche Natur, Savannen und Wälder vernichtet. Besonders fatal: Viele dieser Aktionen sind im Ergebnis noch nicht einmal besonders produktiv – gemessen am Ertrag. Es wird Zeit, sich die Folgen bewusst zu machen, wenn hier nicht umgesteuert wird. Denn die Menschheit sägt damit dreifach am eigenen Ast. Da sind einmal die Genpools der Millionen von Arten und Sorten, deren Vielfalt auch die Basis für die Widerstandfähigkeit unserer Kulturpflanzen bildet.

Zweitens – und jetzt kommen wir zu den schlechten Nachrichten von heute – fliehen dadurch Tiere aus ihren isolierten Lebensräumen, sie kommen Menschen und anderen Tierarten näher und verbreiten damit auch Krankheiten, was der Mensch mit dem legalen und illegalen Wildtierhandel noch beschleunigt.

Drittens ist bekannt, dass viele Ökosysteme – so wie der Amazonaswald – bereits ab einem relativ niedrigen, kritischen Ausmaß von Zerstörung schlicht umkippen – eine Gefahr, die die Klimaerwärmung noch verschärft.

Warum erlaubt die EU noch den Import von Soja aus Brasilien?

Dabei gibt es eine Handlungsleitung gegen diese Zerstörung. Die UN-Biodiversitätskon­vention – kurz CBD, ein weltweites Rahmenabkommen zur Bekämpfung des Artenschwunds und des Erhalts wichtiger Naturräume. Verabschiedet wurde sie 1992 gemeinsam mit der UN-Klimakonvention in Rio de Janeiro. Allerdings nehmen die meisten Staaten die Konvention nicht wirklich ernst, auch nicht die Europäische Union. Sonst hätte sie längst den Import von Soja aus Brasilien, aber auch aus den USA eingeschränkt und würde in der Agrarförderung umsteuern.

Viele Regionen müssen deutlich mehr als Europa gegen Krankheiten kämpfen, die ihren Ursprung in der Natur haben. Das haben wir unserem bislang gemäßigten Klima zu verdanken. Doch das Risiko betrifft auch uns – die aktuelle Pandemie zeigt dies drastisch. Die Zerstörung der Natur durch den Menschen ist ähnlich gefährlich wie die Klimakatastrophe – und auch sie ist aufzuhalten, wenn wir sie ernst nehmen. Allerdings befürchte ich: Die Schlagzeilen werden ausbleiben.