Die Mythen um den Energiecharta-Vertrag

 

Der Energiecharta-Vertrag (ECT) ist eine recht unbekannte Vereinbarung. Mitte der Neunzigerjahre von den EU-Mitgliedsstaaten und rund zwanzig Ländern (etwa den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion) unterzeichnet, dient er unter anderem zum Schutz von Auslandsinvestitionen und dem Handel mit Energiematerialien und -produkten. So basiert die Milliarden-Klage des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall gegen Deutschland wegen des Atomausstiegs auf dem ECT. Nun soll der Vertrag reformiert werden. Aber in welche Richtung? Dazu eine Einschätzung der nichtstaatlichen Organisation Corpora Europe Observatory.

 In dieser Woche kommen die Mitgliedsstaaten des Energiecharta-Vertrags (ECT) für ihre Jahreskonferenz zusammen und bewerten die laufenden Versuche zur Reform des umstrittenen Abkommens. Inmitten wachsender Besorgnis darüber, dass der ECT dringend notwendigen Klimaschutz untergräbt, verbreiten seine Nutzniesser und das ECT-Sekretariat Propaganda darüber, wie der Vertrag Investitionen in saubere Energie fördert und seine „Modernisierung“ jegliche Mängel beheben wird. Dieser Leitfaden deckt die Mythen rund um den ECT auf und gibt Einblicke in eine Welt schmutziger Energie, billiger Profite und des Missbrauchs durch Konzerne.

Die Regierungen der Welt müssen dringend Maßnahmen zur Bewältigung der Klimakrise ergreifen. Vor allem müssen sie aus Kohle, Öl und Gas aussteigen und eine Zukunft der erneuerbaren Energien einleiten. Um den Klimawandel zu verhindern ist es notwendig, dass ein Großteil der weltweiten Reserven an fossilen Brennstoffen unter der Erde bleibt.

Aber Regierungen, die aus der Kohleförderung aussteigen, die Gasförderung beenden oder neue Ölpipelines stoppen, können nach dem Energiecharta-Vertrag (ECT) für Konzernverluste in Milliardenhöhe haftbar gemacht werden – denn der ECT ermöglicht es ausländischen Investoren des Energiesektors, Regierungen wegen Entscheidungen zu verklagen, die sich negativ auf ihre Gewinne auswirken können. Das schließt auch klimapolitische Maßnahmen ein.

So hat beispielsweise der britische Öl- und Gaskonzern Rockhopper Italien wegen eines Verbots neuer Offshore-Ölbohrungen verklagt, und der finnisch-deutsche Kohlekonzern Fortum/Uniper droht den Niederlanden, sie wegen des Ausstiegs aus der Kohleförderung zu verklagen. Diese Klagen werden aber nicht bei normalen staatlichen Gerichten eingereicht, sie finden in einer Art Schattengerichtsbarkeit statt, in der drei private Anwält*innen das Verfahren durch einen Schiedsspruch entscheiden.

Auf dieser Grundlage waren Regierungen bereits gezwungen, enorme Summen zu bezahlen. Die ausstehenden Forderungen der öffentlich bekannten laufenden Verfahren auf Grundlage des ECT belaufen sich insgesamt auf rund 28 Milliarden US-Dollar. Allerdings sind nur für 25 von 52 laufenden Verfahren Informationen öffentlich zugängig – die tatsächliche Summe könnte also mehr als doppelt so hoch sein. Aber schon die 28 Milliarden US-Dollar sind eine erschreckend hohe Summe – sie entspricht den geschätzten jährlichen Kosten, die auf dem gesamten afrikanischen Kontinent durch die Anpassung an den Klimawandel entstehen.

Der Widerstand gegen den ECT hat sich in letzter Zeit rapide verschärft. Im Oktober 2020 stimmte das Europäische Parlament dafür, den Schutz der fossilen Brennstoffe durch den ECT zu beenden. Im November forderten 280 Parlamentarier*innen die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedesländer auf, „nach Wegen zu suchen, sich gemeinsam aus dem Vertrag zurückzuziehen“. Im Dezember schlossen sich 200 führende Climate Leaders und Wissenschaftler*innen dieser Forderung an und bezeichneten den ECT als ein „Haupthindernis“ für den Übergang zu sauberen Energien. Hinter den Kulissen im Rat haben auch EU-Mitgliedsstaaten wie Frankreich, Spanien und Luxemburg die Rückzugsoption für den Fall angesprochen, dass der ECT nicht mit dem Pariser Klimaabkommen in Übereinstimmung gebracht werden kann. Belgien hat sogar den Europäischen Gerichtshof gefragt, ob der ECT überhaupt mit dem EU-Recht vereinbar ist.

Aber es gibt mächtige Interessensgruppen, die nicht nur verhindern wollen, dass Staaten aus dem ECT austreten, sondern die auch versuchen, neue Unterzeichnerstaaten zu gewinnen. Um das zu erreichen behaupten sie alles, wovon sie sich Erfolg versprechen. Hier sind einige der Schlüsselmythen und „alternativen Fakten“, die ein positives Bild des ECT verbreiten sollen.

Mythos 1: Der ECT bringt dringend benötigte ausländische Investitionen, auch in saubere Energie

Die Unterstützer des ECT behaupten, der Vertrag ziehe Investitionen an: Indem der Vertrag ausländischen Investoren erlaubt, Staaten außerhalb ihrer, wie sie es formulieren, „parteiischen“ inländischen Gerichte zu verklagen, mache er einen Staat zu einem sichereren und attraktiveren Investitionsziel. Nach Ansicht des Generalsekretärs des ECT-Sekretariats (das nicht nur ein Verwaltungsorgan, sondern eine treibende Kraft hinter der Unterstützung für den Vertrag ist) kann der ECT „eine Schlüsselrolle“ spielen, wenn es um die „gewaltigen Investitionen in nachhaltige Energiequellen“ geht, die im Pariser Klimaabkommen und den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung gefordert werden.

Tatsache ist: Es gibt keinen klaren Nachweis dafür, dass der ECT überhaupt Investitionen anzieht, geschweige denn in erneuerbare Energien.

Im Jahr 2018 kam die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in einer Auswertung aller vorhandenen Studien zu diesem Thema zu dem Schluss, dass „nur wenig belastbare Beweise vorliegen“, dass Abkommen wie der ECT tatsächlich Investitionen anziehen. Eine kürzlich durchgeführte Meta-Analyse von 74 Studien ergab, dass die Auswirkungen von Investitionsabkommen auf die Steigerung der Auslandsinvestitionen „so gering sind, dass sie als null betrachtet werden können“.

Es gibt immer noch keinen Beweis dafür, dass der ECT einen positiven Einfluss auf die Investitionsströme in irgendeinem Sektor, einschließlich des Sektors der erneuerbaren Energien, hat.

Kyla Tienhaara, Queen‘s University, Christian Downie, Australian National University

Die Existenz von Investitionsschutzverträgen wie dem ECT gehört auch nicht zu den 167 Kriterien, die Bloomberg New Energy Financezur Beurteilung der Attraktivität eines Staates für Investitionen in saubere Energie verwendet, im Gegenteil: Staaten wie Brasilien und Indien, die solche Verträge nie ratifiziert oder schon gekündigt haben, gehören zu den Top-Zielen für Investoren in erneuerbare Energien. Ziele für den Ausbau sauberer Energien und Steueranreize gehören hingegen zu den Faktoren, die diese Märkte für Investoren in erneuerbare Energien tatsächlich attraktiv machen.

Mythos 2: Durch den Schutz von Investitionen in erneuerbare Energien trägt der ECT zur Bekämpfung des Klimawandels bei

Angesichts des wachsenden öffentlichen Widerstands gegen den ECT haben dessen Sekretariat, Lobbyist*innen für fossile Brennstoffe und Unternehmensanwält*innen eine Verteidigungsstrategie initiiert. Sie behaupten, dass der Vertrag in Wirklichkeit zur Bekämpfung des Klimawandels beiträgt. Dabei berufen sie sich darauf, dass 60 Prozent der Klagen auf Grundlage des ECT von Investoren in erneuerbare Energien eingereicht wurden. Um einen Berater des russischen Öl- und Gasgiganten Gazprom und ehemaligen Mitarbeiter*innen des ECT-Sekretariats zu zitieren: „[Der] ECT schützt heute in erster Linie erneuerbare Energiequellen … vor einer einseitigen Verschlechterung des Investitionsklimas durch die Gastländer“.

Tatsache ist: Der ECT schützt alle bestehenden Energieinvestitionen, und die meisten von ihnen betreffen fossile Brennstoffe. Er untergräbt dringend erforderliche umweltpolitische Maßnahmen, indem er es so den Verursachern des Klimawandels ermöglicht, Regierungen für dessen Bekämpfung zu verklagen.

Zwar betreffen die jüngsten Fälle auf Grundlage des ECT erneuerbare Energiequellen wie Sonne und Wind, dies macht den ECT aber nicht zu einem Instrument der Bekämpfung des Klimawandels. Im Gegenteil. Der ECT schützt bestehende Energieinvestitionen – die meisten davon in fossile Brennstoffe. Selbst in den Jahren 2013-2018, als die Finanzierung erneuerbarer Energien ungewöhnlich hoch war, machten sie nur 20 Prozent der durch den ECT abgedeckten Investitionen aus. 56 Prozent flossen in Kohle-, Öl- und Gasinvestitionen. (Siehe diese Analyseeiner ehemaligen Mitarbeiterin des ECT-Sekretariats.)

Dies spiegelt den globalen Trend wider, nach dem 2019 nur 18 Prozent der Energieinvestitionen in erneuerbare Energien flossen. Investitionen in fossile Brennstoffe hingegen machten 52 Prozent aus. Das entspricht, dem erstaunlichen Betrag von 976 Milliarden US-Dollar. (Der restliche Anteil floss in Stromnetze, Kernkraft und Energieeffizienz). Darüber hinaus unterstützen Regierungen fossile Brennstoffe mit enormen Subventionen, die weltweit auf jährlich 5,2 Billionen US-Dollar und in der EU auf 289 Milliarden US-Dollar geschätzt werden.

Der ECT stellt eine ernsthafte Bedrohung für das europäische Ziel der Klimaneutralität und im weiteren Sinne für die Umsetzung des Pariser Abkommens dar.

Offener Brief von über 280 Parlamentarier*innen aus der gesamten EU.

Nach der Einschätzung von Beobachter*innen hat der ECT dadurch, dass er den status quo schützt, die Funktion eines „Leibwächters der fossilen Brennstoffindustrie“. Um ihren Klimaverpflichtungen nachzukommen, müssten Regierungen Kohlebergwerke und Kraftwerke schließen, den Öl- und Gasbetrieb einstellen, neue Infrastruktur für fossile Brennstoffe stilllegen und Subventionen kürzen. Aber wenn sie das tatsächlich tun, verlieren die Investitionen in schmutzige Energien drastisch an Wert. Investoren können dann auf den ECT zurückgreifen und hohe Entschädigungszahlungen verlangen – wie Fortum/Uniper mit seiner angedrohten Forderung von einer Milliarde Euro gegen den niederländischen Kohleausstieg.

Schätzungen gehen davon aus, dass sich die potenziellen Kosten solcher Ansprüche bis 2050 auf mindestens 1,3 Billionen Euro belaufen werden – ein starker finanzieller Anreiz für Regierungen, dringend notwendige Maßnahmen zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zu verlangsamen oder abzuschwächen.

Mythos 3: Der ECT wird hauptsächlich von kleinen und mittleren Unternehmen genutzt

Das ECT-Sekretariat behauptet, dass „die Mehrheit aller Investitionsstreitigkeiten nach dem Vertrag (ca. 60%) von kleinen oder mittleren Unternehmen vorgebracht werden“. Ihrer Statistikzufolge hatten bis Oktober 2020 kleine und mittlere Unternehmen 261 ECT-Fälle eingereicht, während nur 7 von großen Unternehmen vorgebracht wurden.

Tatsache ist: Der ECT ist ein Instrument großer Konzerne, und seine Befürworter benutzen fehlerhafte Zahlen, um diese Tatsache zu verbergen.

Die Statistiken des ECT-Sekretariats basieren auf einer falschen Definition kleiner und mittlerer Unternehmen. Sie bezeichnen all jene Unternehmen als klein oder mittelgroß, die nicht zu den 250 größten Energiekonzernen oder den 100 größten multinationalen und nicht im Finanzsektor tätigen Konzernen der Welt gehören. Aus diesem Grund wurden mehrere große Konzerne, die Regierungen mithilfe des ECT geklagt haben, als mittlere und kleine Unternehmen klassifiziert. Unter anderem der schwedische Energieriese Vattenfall (mit 20 000 Angestellten und einem jährlichen Gewinn von fast 1,5 Milliarden Euro). Die Europäische Kommission hingegen geht in Übereinstimmung mit gängigen Definitionen davon aus, dass sie Unternehmen mit weniger als 250 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von weniger als 50 Millionen Euro sind.

Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass viele Unternehmen, die vom ECT-Sekretariat als „klein oder mittelgroß“ bezeichnet werden, entweder Teil viel größerer Konzerne sind oder reichen Einzelpersonen gehören. So haben die „niederländischen“ Unternehmen Charanne und Isolux Infrastructure Spanien im Rahmen des ECT verklagt – sie sind aber nur Briefkastenfirmen, die den spanischen Geschäftsleuten Luis Delso und José Gomis gehören. Beide Männer gehörten zu den reichsten Menschen Spaniens, derzeit werden Vorwürfe der Korruption gegen sie untersucht. Briefkastenfirmen – Firmen mit wenigen oder gar keinen Angestellten, die gegründet wurden, um Gewinne zu verschieben und Steuern zu vermeiden – haben zehn der elf Fälle eingereicht, in denen „niederländische“ Investoren Spanien wegen der Kürzungen der Subventionen für erneuerbare Energien verklagt haben.

Eine weitere Kategorie von ECT-Nutzniessern sind Holdings und Investmentfonds, die in der Statistik mehr als ein Viertel der Kläger auf Grundlage des ECT ausmachen. Sie verwalten oft riesige Geldbeträge und/oder sind Teil großer Konzerne. So ist beispielsweise der RREEF-Investmentfonds Teil der DWS, eines der größten Vermögensverwalter der Welt. Er gehört zum deutschen Finanzgiganten Deutsche Bank und verwaltet weltweit Investitionen von über 700 Milliarden US-Dollar. RREEF verklagte Spanien wegen der Zurücknahme von Subventionen für erneuerbare Energien (un investiert gleichzeitig weiter in Kohle und Gas).

In 85 Prozent der 47 ECT-Klagen gegen Spanien war der Kläger ein Finanzinvestor wie RREEF. Auf der anderen Seite wurden die 60.000 spanischen Familien, wirkliche Klein- und Mittelbetriebe sowie Gemeinden – alle ebenfalls stark von den Subventionskürzungen Spaniens bei den erneuerbaren Energien betroffen – im Stich gelassen. Sie haben kein Recht, ECT-Klagen einzureichen, da nur ausländische Investoren Zugang zu diesem System der Paralljustiz haben.

Mythos 4: Der ECT ist die einzige Möglichkeit, Energieinvestoren im Ausland zu schützen

Befürworter des ECT vertreten die Meinung, ausländische Investoren hätten kaum eine Chance auf Gerechtigkeit, wenn sie von den Gastgeberstaaten ungerecht behandelt werden. Nicht alle Länder würden sicherstellen, „dass die Rechtsstaatlichkeit von den inländischen Gerichten … unparteiisch und unabhängig angewandt wird“, so die EFILA, eine Lobbyistengruppe für Anwaltskanzleien, die Millionen an Gebühren für Verfahren im Rahmen des ECT und ähnlicher Verträge eintreiben. Die ECT-Schiedsgerichtsbarkeit hingegen gewährleiste die „Unabhängigkeit der Investoren von einer möglichen pro-staatlichen Voreingenommenheit der Gerichte“. (Andrei V. Belyi, ehemaliger Mitarbeiter im Sekretariat des ECT).

Tatsache ist: Investoren haben zahlreiche Möglichkeiten, sich im Ausland zu schützen, aber der ECT ist für sie die attraktivste, weil er für sie wie ein Bankautomat funktioniert.

Investoren haben Zugang zu rechtlichem und finanziellem Schutz, wenn sie ins Ausland gehen: Sie können sich gegen politische Risiken wie Enteignung über private Versicherungen, Garantien der Weltbank oder Versicherungen der heimischen Regierungen absichern. Sie können auch projektspezifische Verträge mit dem Gastgeberstaat aushandeln, in denen festgelegt wird, wie und wo potenzielle Konflikte zu lösen sind. Ausländische Investoren haben – wie alle anderen auch – das Recht, vor nationalen oder internationalen Gerichten Schadenersatz für angebliches Fehlverhalten zu fordern.

Als der schwedische Energiekonzern Vattenfall zum Beispiel mit dem deutschen Beschluss zum Atomausstieg unzufrieden war, verklagte er die Regierung vor dem höchsten Gericht des Landes. Das Gericht befand den Atomausstieg für verfassungsgemäß, entschied aber, dass Vattenfall und andere Konzerne ein Recht auf eine begrenzte finanzielle Entschädigung für bestimmte Regierungsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Ausstieg haben. Trotz des Zugangs zur rechtsstaatlichen Justiz setzte Vattenfall seine parallele Schiedsklage über 6 Milliarden Euro auf Grundlage des ECT fort – um mit einem größeren Gewinn davonzukommen.

Der ECT ist für Investoren unter anderem deshalb viel lukrativer als reguläre Gerichte, weil durch sein Schiedssystem Schadenersatz für prognostizierte Gewinne in der Zukunft zugesprochen werden kann, die Konzerne voraussichtlich verlieren werden. In den meisten Gerichten sind zukünftig zu erwartende Verluste nicht entschädigungspflichtig. Ein weiterer Grund ist eine „Straßenraub-Methode“ zur Berechnung von „grob übertriebenen“ Entschädigungszahlungen in Investitionsschiedsverfahren, wie der bekannte Investitionsanwalt George Kahale festgestellt hat.

Ein aufschlussreiches Beispiel für einen großen ECT-Gewinn ist der Fall, der von Aktionären des ehemaligen Ölkonzerns Yukos gegen Russland vorgebracht wurde. Während ein ECT-Tribunal Russland zur Zahlung von 50 Milliarden US-Dollar Schadenersatz verurteilte, sprach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, auf den sich die Investoren in derselben Angelegenheit beriefen, nur 1,9 Milliarden Euro Schadenersatz zu – weniger als 5 Prozent des ECT-Schiedsspruchs.

Mythos 5: Die Modernisierung des ECT wird seine Mängel beheben

Inmitten des wachsenden Widerstands gegen den ECT wurde 2018 ein Prozess zu seiner „Modernisierung“ eingeleitet. Profiteure und Befürworter des Vertrags vertreten die Meinung, dass die Verhandlungen darüber Investorenklagen nach dem ECT „erheblich erschweren“ werden (Kanzlei Winston & Strawn) und „den Staaten den notwendigen Spielraum für Maßnahmen zur Umsetzung der Energiewende geben“ (Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, S. 39). Kurz gesagt: Die Modernisierung werde die Mängel des ECT beheben und ihn in den „grünsten Investitionsvertrag von allen“ verwandeln (Blog von Kluwer Arbitration).

Tatsache ist: Die Modernisierung wird den ECT nicht zähmen und klimafreundlich machen. Der Prozess wird allenfalls kosmetische Veränderungen bringen.

Es gibt starke Anzeichen dafür, dass ein revidierter ECT dessen klimaschädliche Effekte nicht in den Griff bekommt – zumal er vielleicht nie das Licht der Welt erblicken wird: Jede Änderung des Vertrags erfordert Einstimmigkeit – aber Vertragsstaaten des ECT wie beispielsweise Japanhaben zu allen Verhandlungsthemen erklärt, dass sie keine Änderungen wollen. Ein interner Bericht der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2017 hielt es bereits für „nicht realistisch“, dass der ECT jemals geändert wird. Um den ECT jedoch mit dem Pariser Abkommen in Einklang zu bringen und die Gefahr seiner Investitionsschutzbestimmungen zu vereiteln ist eine vollständige Vertragsrevision erforderlich.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Vertragsparteien ein Abkommen zur Anpassung des Vertrags an das Pariser Klimaabkommen erreichen werden.

Masami Nakata, ehemaliger Assistent des ECT-Generalsekretärs, über die Modernisierung des ECT

Zweitens: Was auf dem Verhandlungstisch liegt, löst das Versprechen eines klimafreundlichen ECT in keiner Weise ein. Kein Unterzeichnerstaat hat vorgeschlagen, seinen gefährlichen Investitionsschiedsmechanismus abzuschaffen. Kein Staat hat klare Ausnahmen für den Klimaschutz vorgeschlagen (in der Rechtssprache: „climate carve-out“). Und kein Mitgliedsstaat des ECT will den Schutz fossiler Brennstoffe sofort aus dem modernisierten Vertrag ausschließen. Ein Vorschlag der Europäischen Kommission vom Oktober 2020 würde bestehende Investitionen in fossile Brennstoffe für weitere 10 Jahre und viele Gasprojekte bis 2040 schützen. Das gibt Umweltverschmutzern weitere 20 Jahre Zeit, den Übergang zu sauberer Energie mit kostspieligen Forderungen zu behindern.

Drittens wird eine blumige Sprache über das „Recht der Staaten auf Regulierung“ Klagen gegen den Klimaschutz auf Grundlage des ECT nicht verhindern. Die Schlüsselfrage im Rahmen des ECT ist nicht, ob Staaten ein Recht auf Regulierung haben – sie haben dieses Recht. ECT-Tribunale haben dies auch bestätigt.

Die Kernfrage ist vielmehr, ob Staaten bei der Regulierung die im ECT festgeschriebenen Investorenprivilegien verletzen. Mit anderen Worten: Staaten können regulieren, wie auch immer sie wollen – aber sie laufen immer Gefahr, zur Zahlung von Milliardenbeträgen verurteilt zu werden, wenn ein ECT-Tribunal entscheidet, dass die Regulierung für einen Investor „unfair“ war. Die von der EU geplante erneute Bekräftigung des Rechts auf Regulierung bei gleichjzeitiger Aufrechterhaltung der Investorenprivilegien im ECT wird die öffentliche Politik nicht vor kostspieligen und wahrscheinlich erfolgreichen Verfahren schützen. Das bedeutet, dass das Risiko eines regulatorischen Stillstands (Regierungen vermeiden Ansprüche, indem sie Unternehmen mit einem Verzicht auf Regulierung beschwichtigen) bestehen bleibt – auch im Zusammenhang mit dringend notwendigen Klimamaßnahmen.

Mythos 6: Länder des globalen Südens profitieren vom Beitritt zum ECT

Seit 2012 bemüht sich das ECT-Sekretariat intensiv darum, die geografische Reichweite des Abkommens auf Länder in Afrika und im Nahen Osten, in Asien und Lateinamerika auszuweiten. Viele dieser Länder hoffen, dass der Beitritt zum ECT Investitionen anziehen wird, um die Energiearmut der Bevölkerung zu beenden, die oft keinen Zugang zu Elektrizität für Grundbedürfnisse wie Kochen hat. Diese Hoffnung wird vom Sekretariat des ECT aktiv genährt, das wiederholt „das Potenzial des Vertrags … ausländische Investitionen in den Energiesektor anzuziehen“ und „die Energiearmut zu beseitigen“ betont hat. In einem Werbedokument zu Afrika und dem ECT wird dies sogar explizit behauptet: „Vielleicht ist der Schlüssel zur Freisetzung des Investitionspotenzials Afrikas, um den universellen Zugang zu Energie zu gewährleisten und die Energiearmut zu überwinden, derEnergiecharta-Vertrag.“

Tatsache ist: Es gibt zwar kaum Hinweise darauf, dass der ECT irgendwelche Vorteile bietet, seine Risiken aber sind erheblich, besonders für Länder mit niedrigem Einkommen.

Für Länder, die ihre Energieinvestitionen erhöhen wollen, bringt der Beitritt zum ECT keine Vorteile (siehe Mythos 1 oben). Ebenso wenig gibt es Belege dafür, dass die Mitgliedschaft im ECT die Energiearmut verringert. Seine Nachteile sind jedoch klar – und für Länder mit niedrigem Einkommen besonders schwerwiegend.

Länder, die dem ECT beitreten, riskieren eine Flut von kostspieligen Investorenklagen. Weltweit ist der ECT bereits der meistgenutzte Vertrag für Investitionsschiedsverfahren, und Konzerne aus den Mitgliedsstaaten des ECT sind die größten Nutzer des Systems. 60 Prozent aller 1061 bekannten Fälle von Investorenklagen gegen Staaten weltweit (633) stammen von Unternehmen, deren Heimatstaat Mitglied des ECT ist – die überwiegende Mehrheit davon EU-Staaten.

Der ECT privilegiert … die Interessen ausländischer Investoren gegenüber den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen des Gaststaates und der nationalen Interessengruppen, die nach dem System keinerlei Rechte haben.

Yamina Saheb, Energieexpertin und ehemalige Mitarbeiterin des ECT-Sekretariats

Da Konzerne nicht nur eine Entschädigung für tatsächlich investierte Summen, sondern auch für künftig zu erwartende Verluste fordern, können Staaten gezwungen werden, hohe Schadenersatzbeträge zu zahlen, wenn sie in einem ECT-Verfahren nicht gewinnen. Regierungen wurden bereits aufgefordert oder haben sich bereit erklärt, mehr als 52 Milliarden US-Dollar Schadenersatz aus den öffentlichen Kassen zu zahlen – mehr als die jährlichen Investitionen, die erforderlich sind, um weltweit all jenen Menschen Zugang zu Energie zu verschaffen, denen es derzeit daran mangelt.

Der ECT kann auch die Fähigkeit von Regierungen einschränken, Energiearmut zu bekämpfen und Investitionen so zu regulieren, dass sie zur nationalen Entwicklung beitragen. Mehrere osteuropäische Länder wurden bereits im Rahmen des ECT verklagt, weil sie versucht haben, die Strompreise für die Verbraucher zu senken und so die Gewinne der Energieunternehmen schmälern.

Im Rahmen des ECT können große Energieunternehmen auch Regierungen verklagen, wenn diese sich etwa dazu entschließen, Mitnahmegewinne zu besteuern, die Anstellung lokaler Arbeitskräfte zu erfordern, Technologie zu transferieren, Rohstoffe vor dem Export zu verarbeiten oder sogar natürliche Ressourcen zu schützen. Damit wird es für Staaten schwieriger, die sozialen und ökologischen Kosten ausländischer Energieinvestitionen zu minimieren und gleichzeitig ihren Nutzen für die lokale Bevölkerung zu maximieren.

Insbesondere ist ein Land, sobald es dem Vertrag beigetreten ist, mindestens 26 Jahre lang anfällig für Klagen auf Grundlage des ECT – auch wenn nachfolgende Regierungen beschließen, den Vertrag zu verlassen. Zwar kann jeder Staat fünf Jahre nach dem Beitritt zum ECT aus dem Vertrag austreten, und der Austritt wird ein Jahr später wirksam, doch kann er für Investitionen, die vor dem Austritt getätigt wurden, noch 20 Jahre lang verklagt werden (siehe nächster Abschnitt).

Mythos 7: Der Austritt aus dem ECT schützt Regierungen nicht vor kostspieligen Klagen

Die Verteidiger des ECT behaupten, dass ein Austritt der Unterzeichnerstaaten aus dem Vertrag „unsinnig sei, um Entschädigungen zu vermeiden“ (Andrei V. Belyi, ehemaliger Mitarbeiter des ECT-Sekretariats). Aufgrund der Verfallsklausel (sunset clause) des ECT, die es Investoren erlaubt, ein Land nach seinem Austritt 20 Jahre lang zu verklagen, argumentieren sie, dass eine Reform des ECT die einzige Möglichkeit sei, den ECT zu zähmen.

Wie Carlo Pettinato, einer der Verhandlungsführer der Europäischen Kommission bei den Gesprächen über die Modernisierung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, in einer Debatte darlegte (Minute 23’00): „Selbst wenn wir heute austreten, weil uns [der ECT] nicht gefällt, sitzen wir nach den derzeitigen Regeln 20 Jahre lang mit Investoren fest… Das wollen wir nicht. Wir wollen ihn ändern, wir wollen ihn reformieren.“ (Minute 23’00)

Tatsache ist: Ein Austritt aus dem ECT, wie ihn Italien bereits vorgeführt hat, verringert das Risiko, verklagt zu werden, erheblich – und vermeidet , dass neue fossile Brennstoffprojekte vor staatlichen Eingriffen geschützt sind.

Ungeachtet der Verfallsklausel des ECT verringert das Verlassen des Vertrags das Risiko eines Landes, verklagt zu werden, erheblich: Denn die Bestimmung gilt nur für Investitionen, die vor dem Austritt getätigt wurden, während die danach getätigten Investitionen nicht mehr durch den ECT geschützt sind. In einer Zeit, in der der größte Teil der neuen Energieinvestitionen immer noch in fossile Brennstoffe und nicht in erneuerbare Energien fließt, ist das wichtig, denn je früher sich Staaten zurückziehen, desto weniger neue schmutzige Investitionen werden durch den ECT geschützt.

Wenn Regierungen als Vorreiter beim Klimawandel gesehen werden wollen, dann müssen sie von Investitionsabkommen Abstand nehmen, die ihnen die Hände binden und weiterhin fossile Brennstoffe auf Kosten der Steuerzahler*innen schützen. Der Rückzug aus dem Energiecharta-Vertrag ist ein wesentlicher erster Schritt.

Offener Brief von über 200 Climate Leaders und Wissenschaftler*innen

Der Austritt aus dem ECT ist nicht schwierig. Wenn ein Land fünf Jahre lang Mitglied gewesen ist, kann es jederzeit durch einfache schriftliche Mitteilung aus dem ECT austreten. Dies gilt für fast alle der über 50 Mitglieder des Vertrags, einschließlich der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Sich sofort aus dem ECT zurückzuziehen ist auch Teil eines globalen Trends: 2019 war nach UN-Angaben das zweite Jahr, in dem mehr schädliche und überholte Investitionsverträge gekündigt als neue abgeschlossen wurden. Italien hat diesen Schritt in Bezug auf den ECT bereits getan und ist 2016 ausgetreten.

Wenn sich mehrere Länder gemeinsam zurückziehen, können sie die Verfallsklausel weiter abschwächen. Die ausgetretenen Länder könnten ein Abkommen verabschieden, das Ansprüche innerhalb ihrer Gruppe ausschließt – bevor sie gemeinsam aus dem ECT austreten. Eine solche Erklärung würde es für Investoren aus diesen Ländern schwierig machen, andere aus der Gruppe zu verklagen.

Dies ist nicht abwegig. Die EU-Mitgliedsstaaten haben bereits im Mai 2020 ein solches Abkommen über rund 130 bilaterale Investitionsabkommen, die sie untereinander unterzeichnet hatten, erreicht. Würden die EU-Mitgliedsstaaten in Bezug auf den ECT einen ähnlichen Schritt unternehmen, wäre die Mehrheit der Fälle nach dem Vertrag – derzeit sind 66 Prozent aller Fälle von EU-Investoren gegen EU-Mitgliedsstaaten – in Zukunft nicht mehr möglich.

Aussteigen, bevor es zu spät ist!

Zwei Fraktionen im Europäischen Parlament haben bereits den Austritt der EU aus dem ECT gefordert (siehe hier und hier). Im November 2020 forderten mehr als 280 Parlamentarier*innen aus der gesamten EU und verschiedenen politischen Parteien die EU-Mitgliedsstaaten auf, „nach Wegen zu suchen, um gemeinsam aus dem ECT auszusteigen“, falls Bestimmungen zum Schutz fossiler Brennstoffe und der Streitbeilegungsmechanismus des ECT zwischen Investoren und Staat nicht in den Modernisierungsverhandlungen gestrichen werden. Da die Verhandlungen sehr wahrscheinlich an den weit verbreiteten Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten scheitern und so keine Ergebnisse hervorbringen werden, die die tief verwurzelten Probleme des ECT lösen, sollten die Staaten einen raschen Rückzug aus dem ECT in Erwägung ziehen. Angesichts der Dringlichkeit, mit dem der Klimawandel bekämpft und die Energiewende beschleunigt werden muss, dürfen wir keine Zeit verlieren.


Sie möchten mehr über die Befürworter des ECT und deren Strategien erfahren? Informieren Sie sich in unserem ausführlichen Mythen-Buster über den ECT für besorgte Bürger, Aktivisten, Journalisten und Politiker (auf englisch).