Chile-EU: Noch ein Handelsabkommen mit bedrohlichen Folgen

Salar de Tare in der Atacama-Wüste, Chile. ©commons-wikipedia.com

Es hört einfach nicht auf: Ein neues Freihandelsabkommen soll Chile und die EU wirtschaftlich enger miteinander verbinden und Handelsschranken abbauen. Ausländische Investoren in Chile bekämen dadurch mehr Rechte. Kritiker befürchten, dass so der Umweltschutz den Interessen ausländischer Unternehmen untergeordnet werden könnte. Darüber berichtete Sophia Boddenberg im Deutschlandfunk.

Der Botschafter der Europäischen Union in Chile León de la Torre spricht in einer digitalen Gesprächsrunde Ende September über die Handelsbeziehungen mit Chile. Er wirbt darum, das Handelskapitel des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Chile zu modernisieren: „Wir sind uns als Partner einig darüber, dass der Freihandel das beste Instrument ist, um nachhaltige Entwicklung, die Schaffung von Arbeitsplätzen und Innovation zu fördern.“

Rohstoffe für Europa

Seit der Annahme des Abkommens vor 17 Jahren hat sich der Handel mehr als verdoppelt. Chile exportiert fast ausschließlich Rohstoffe aus dem Bergbau und Agrarerzeugnisse in die EU, wie zum Beispiel Kupfer, Lithium, Zellstoff, Avocados, Blaubeeren, Wein, Nüsse und Lachs. Die EU hingegen liefert verarbeitete Produkte: Fahrzeuge, Flugzeuge, Medikamente und chemische Produkte.

Lucía Sepúlveda ist Mitglied der Organisation „Chile Mejor Sin TLC“ – übersetzt bedeutet der Name „Chile geht es besser ohne Freihandelsabkommen“. Denn der Vertrag verstärke die Abhängigkeit der chilenischen Wirtschaft vom Rohstoffexport.

„Wir wollen keine koloniale Beziehung mit Europa. Dieses Abkommen erzeugt eine neokoloniale Beziehung. Die Europäische Union wird uns weiter verarbeitete Produkte, Maschinen und Autos liefern, während wir Rohstoffe exportieren.“

Monokulturen durch industrielle Landwirtschaft

Auch innerhalb Chiles sorgt diese Einseitigkeit für Probleme: Die wasserintensive Landwirtschaft verschärft Trockenperioden, Monokulturen und der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln gefährden die Biodiversität, Bergbauunternehmen leiten giftige Abwässer in die Flüsse und ins Meer. Sepúlveda nennt die Ausbeutung von Rohstoffen für den Export „Extraktivismus“.

„Der Extraktivismus führt dazu, dass sich die Gemeinden verändern. Zum Beispiel werden für die industrielle Landwirtschaft Monokulturen angebaut. Alles, was produziert wird, ist für den Export. Damit verändert sich die ganze Region. Es müssen Straßen gebaut werden, Häfen, alles wird auf den Export ausgerichtet, während gleichzeitig die Dorfgemeinschaften zerstört werden. Die traditionelle Landwirtschaft verschwindet.“

Juana Calfunao ist lonko, eine Art Oberhaupt der indigenen Mapuche-Gemeinde Juan Paillalef in der Araucanía-Region. Sie setzt sich gegen Unternehmen ein, die im Territorium der Mapuche die Natur ausbeuten. Zwischen 2008 und 2020 wurden mehr als 22.000 Hektar Naturwald in Chile abgeholzt, die jetzt für die Land- und Forstwirtschaft genutzt werden – ein großer Teil davon im Gebiet der Mapuche.

Sorgen in der Mapuche-Gemeinde

Calfunao war schon mehrfach im Gefängnis, weil sie gegen den Bau einer privaten Straße in ihrer Gemeinde protestiert hat. 2015 sagte die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte ihr Schutzmaßnahmen zu, nachdem chilenische Polizisten ihre Familie verfolgt und belästigt hatten. Auch sie rechnet bei einem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Chile mit viel mehr Schaden als Nutzen:

„Dieses Abkommen wird unsere Existenzgrundlagen zerstören, unser Land, unsere Gemeinden, unsere Lebensart als Mapuche. Unser Itrofil Mongen wird zerstört, das, was ihr Biodiversität nennt. Für uns ist das Medizin, all das Wissen, das unsere Vorfahren an uns weitergegeben haben. Sie haben uns beigebracht, die Natur zu beschützen und sie nicht zu verschmutzen.“

Ein Drittel der Direktinvestitionen in Chile kommen aus der EU: Man findet sie im Energiesektor, im Bergbau und im Infrastruktursektor. Im geplanten Nachhaltigkeitskapitel des erneuerten Freihandelsabkommens unterwerfen sich die EU und Chile dem Pariser Klimaschutzabkommen und den UN-Zielen für Nachhaltige Entwicklung. Und beide Parteien versprechen, die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation zu respektieren.

Dazu gehört auch die Konvention 169 zum Schutz indigener Völker. Allerdings sieht das Nachhaltigkeitskapitel keinerlei Sanktionen vor, wenn dagegen verstoßen wird. Bei Konflikten soll lediglich ein Experten-Panel einberufen werden, um einen Empfehlungsbericht auszustellen. Ein schwaches Nachhaltigkeitskapitel ist unter EU-Parlamentariern und Umweltschützern auch einer der Hauptkritikpunkte an dem ähnlichen Mercosur-Abkommen, das die EU mit Argentinien, Paraguay, Uruguay und Brasilien schließen will – obwohl vor allem im Amazonas immer wieder die Wälder brennen.

Gefahr durch Investorenklagen für Arbeitsrechte

Judith Schönsteiner ist Direktorin des Zentrums für Menschenrechte der Universidad Diego Portales in Chiles Hauptstadt Santiago. Sie dokumentiert Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen in Chile. Sie berichtet von missachteten Arbeitnehmerrechten, von fehlendem Respekt für die Landansprüche indigener Völker und das Recht auf Wasser.

„Die Kapitel zu Umwelt, Arbeitsrechten und so weiter, das sind normalerweise die unverbindlichen Kapitel, die eben nicht justizierbar sind, die man also nicht einklagen kann. Und besonders kann sie niemand einklagen, der Opfer ist. Das müsste der Staat übernehmen, diese Klage zu führen, und das wird meistens nicht gemacht.“

Im Gegensatz dazu drängt die EU-Kommission darauf, den ausländischen Investoren einklagbare Rechte zu übertragen. Sie möchte dafür einen Investitionsgerichtshof einführen, den ausländische Konzerne anrufen können, falls neue Gesetze die Rahmenbedingungen verändern. Der Gerichtshof soll die bisher üblichen privaten, internationalen Schiedsgerichte ersetzen. Allerdings stehen beide Systeme in der Kritik. Denn sie ermöglichen transnationalen Konzernen, Staaten auf Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe zu verklagen, wenn sie ihre Gewinne durch politische Entscheidungen beeinträchtigt sehen.

Doch die sind zu erwarten. Chile befindet sich im politischen Umbruch: Monatelange Proteste haben dazu geführt, dass im nächsten Jahr eine neue Verfassung ausgearbeitet wird, die stärker auf sozialen Ausgleich setzt als die jetzige, die unter dem Einfluss der Pinochet-Diktatur und radikal-neoliberaler Wirtschaftsberater verabschiedet wurde.

Gus Van Harten ist Professor für Verwaltungsrecht an der York University und Experte in Investitionsrecht. Er meint, dass allein die Drohung einer Investorenklage dazu führen kann, dass Staaten weniger regulieren, beispielsweise im Umweltbereich. „Das wird normalerweise regulatory chill genannt. Aber ich bezeichne es als eine Umgestaltung des Staates. Der staatliche Regierungsapparat wird umgestaltet zugunsten der ausländischen Investoren und zum Nachteil all derjenigen, deren Interessen von denen der Investoren abweichen.“

Natürliche Ressourcen verstaatlichen?

Aktivistinnen wie Sepúlveda kritisieren zusätzlich die mangelnde Transparenz der Handelsgespräche zwischen der chilenischen Regierung und der EU-Kommission, die kaum demokratische Teilhabe ermögliche.

Im Januar 2021 geht die Modernisierung des Assoziierungsabkommens in die nächste Runde. Im April werden die Mitglieder der chilenischen Verfassungsversammlung gewählt, die anschließend ein Jahr Zeit haben, um eine neue Verfassung auszuarbeiten. EU-Botschafter de la Torre möchte die Freihandelsrunde so schnell wie möglich abschließen:

„Wir möchten die Verhandlungen beenden, bevor ein sehr komplexer Wahlzyklus im Land beginnt, der es erschweren könnte, ein Abkommen wie dieses abzuschließen.“

Denn die neue Verfassung und der Freihandelsvertrag wären womöglich nicht vereinbar. In Chile wird darüber diskutiert, natürliche Ressourcen wie Gas, Erze oder Seltene Erden zu verstaatlichen. Auch wären schärfere Umweltgesetze fällig. Falls der erneuerte Freihandelsvertrag jedoch vorher steht, könnten europäische Investoren dann den chilenischen Staat verklagen.


Mehr zum Chile-EU-Abkommen steht in einem weiteren Deutschlandfunkbeitrag von November 2020.