Viele Handelsverträge bieten internationalen Konzernen die Möglichkeit, Staaten zu verklagen, wenn diese Maßnahmen ergreifen, die sich profitmindernd auswirken können. Solche Eingriffe gab es in den letzten Monaten genug – weil Regierungen angesichts der Covid-19-Pandemie nicht tatenlos zulassen konnten und durften, dass noch mehr Menschen sterben. Internationale Anwaltskanzleien, die Millionen mit den sog. Investitionsschutzverfahren verdienen, reiben sich die Hände. Was sie im Schilde führen und weshalb sie sich freuen können, erläuterte Pia Eberhardt in einem Beitrag für die Blätter für deutsche und internationale Politik.
Ein Ende der Corona-Pandemie ist nicht in Sicht: Wo die Infektionszahlen im Sommer auf der nördlichen Halbkugel noch auf niedrigem Niveau stagnierten, steigen sie mit Beginn der kalten Jahreszeit nun wieder rasant an. Um vulnerable Bevölkerungsgruppen zu schützen und die medizinische Versorgung sicherzustellen, werden inzwischen ganze Großstädte zu Risikogebieten erklärt oder abgeriegelt. Einen generellen Lockdown wollen alle Regierungen möglichst vermeiden, um die wirtschaftlichen Schäden aus dem Frühjahr nicht noch zu vergrößern: Aufgrund sinkender Wirtschaftsleistung stieg weltweit die Arbeitslosigkeit an und brachen die Steuereinnahmen ein, während zugleich die staatlichen Ausgaben durch die Corona-Hilfsmaßnahmen in die Höhe schnellten.
Gefahr droht den Staaten aber nicht nur durch das Coronavirus. Als Italien am 26. März dieses Jahres über 8000 Corona-Toten zählte – mehr als doppelt so viele wie jedes andere Land –, sinnierten Anwälte einer italienischen Kanzlei bereits über Konzernklagen gegen die staatlichen Notfallmaßnahmen zur Eindämmung des Virus und seiner verheerenden wirtschaftlichen Folgen. Ihr Fazit: Die „übereilten und schlecht koordinierten“ Maßnahmen der italienischen Regierung könnten in den Geltungsbereich internationaler Investitionsabkommen fallen – und zu einer Welle teurer Schadenersatzklagen gegen Italien vor privaten Schiedsgerichten führen [Fussnoten siehe Originaltext].
Weltweit ermöglichen mehr als 2600 Handels- und Investitionsabkommen ausländischen Investoren, Staaten vor privaten Schiedsgerichten zu verklagen, wenn sie ihre weitreichenden Rechte in den Verträgen als verletzt ansehen. Dabei können Konzerne schwindelerregend hohe Summen an Schadenersatz für angebliche Investitionseinbußen fordern – infolge von Enteignungen, aber auch quasi jeglicher Art der Regulierung.
Bekannte hiesige Beispiele sind die Schiedsverfahren des schwedischen Konzerns Vattenfall. Mit einer ersten Klage über einen Streitwert von 1,4 Mrd. Euro erreicht Vattenfall 2010 im Rahmen einer Einigung die Absenkung von Umweltauflagen für das umstrittene Kohlekraftwerk im Hamburger Stadtteil Moorburg. Seit 2012 läuft die zweite Klage über 6,1 Mrd. Euro Schadenersatz für den beschleunigten Atomausstieg nach der Katastrophe von Fukushima. Allein die Rechtskosten zur Verteidigung dieser Klage belaufen sich auf Seiten der Bundesregierung bereits auf knapp 22 Mio. Euro.
Inmitten der Coronakrise bereiten global agierende Anwaltskanzleien nun den Boden für Investor-Staat-Klagen gegen Maßnahmen, die Regierungen ergriffen haben, um Leben zu retten, die Pandemie einzudämmen und ihre wirtschaftlichen Folgen abzumildern. In Webinaren und Publikationen weisen sie ihre Klienten darauf hin, dass sie ihre im Rahmen der Pandemie eingebüßten Gewinne auf Basis von Investitionsabkommen wieder einklagen können. So schrieb die Kanzlei Ropes & Gray im April 2020: „Regierungen haben auf Covid-19 mit einer Reihe von Maßnahmen reagiert, darunter Reisebeschränkungen, Einschränkungen der Geschäftstätigkeit und Steuervorteile. Ungeachtet ihrer Legitimität können sich diese Maßnahmen negativ auf Unternehmen auswirken, indem sie die Rentabilität verringern, den Betrieb verzögern oder von staatlichen Leistungen ausgeschlossen werden. […] Für Unternehmen mit ausländischen Investitionen könnten Investitionsabkommen ein wirksames Instrument sein, um Verluste infolge von Covid-19-bezogenen Maßnahmen auszugleichen oder zu verhindern.“
Schutzmaßnahmen im Fadenkreuz
Die Kanzleien werden nicht müde zu betonen, dass viele der über 1020 weltweit bekannten Investor-Staat-Klagen infolge von Wirtschaftskrisen oder politischen Umbrüchen entstanden sind – wie etwa der argentinischen Finanzkrise Anfang der 2000er oder dem Arabischen Frühling Anfang der 2010er Jahre. In 77 Prozent der Klagen, die gegen Argentinien im Kontext seiner Finanzkrise erhoben wurden, kam es entweder zu einem Schiedsspruch zugunsten des Investors oder zu einer Einigung, bei der die Kläger nicht leer ausgegangen sein dürfteDie Corona-Pandemie könnte nun eine erneute Klagewelle lostreten.
Die Palette staatlicher Schutzmaßnahmen, die Kanzleien ins Visier nehmen, ist breit. So könnten ausländische Versorgungsunternehmen Länder wie El Salvador, Bolivien, Kolumbien oder Argentinien verklagen, weil diese verfügten, dass Haushalte in der Pandemie weiter Zugang zu Wasser zum Händewaschen haben sollen – auch wenn diese Rechnungen nicht begleichen können. Im Ausland registrierte Immobilienfirmen könnten Länder verklagen, die Mieter*innen schützen, weil sie aufgrund von Krankheit oder krisenbedingtem Jobverlust ihre Miete nicht zahlen können. „Während diese Maßnahmen den Schuldnern helfen, wirken sie sich unweigerlich auf die Gläubiger aus, indem sie Einkommensverluste verursachen“, begründet die Kanzlei Shearman & Sterling mögliche Corona-Klagen.
Auch Preisobergrenzen für Medikamente und die Lockerung des Patentschutzes zur Entwicklung eines günstigen Impfstoffs könnten Unternehmen vor Schiedsgerichten als vermeintliche Enteignung anfechten. Gleiches gilt für finanzpolitische Maßnahmen wie Kapitalverkehrskontrollen zur Eindämmung destabilisierender Geldabflüsse sowie Schuldenerlasse und Umschuldungen, zu denen Staaten im Kontext der Corona-Wirtschaftskrise gezwungen sein könnten.
Solche Konzernklagen können öffentliche Haushalte massiv belasten. Die Rechtskosten belaufen sich im Schnitt auf 5 Mio. Euro pro Partei. Selbst Staaten, die nicht verlieren, bleiben oftmals auf ihren Anwaltskosten sitzen. So musste Australien die Hälfte seiner Kosten zur Verteidigung gegen die Philip-Morris-Klage gegen Anti-Tabak-Gesetze tragen, obwohl ein Schiedsgericht die Klage wegen missbräuchlichem Verhalten des Konzerns abgewiesen hatte. Verliert eine Regierung gar, wird es noch teurer: Bis Ende 2018 wurden Staaten zur Zahlung von insgesamt 88 Mrd. Dollar verurteilt – was dem 18fachen des Budgets der Weltgesundheitsorganisation für das Jahr 2020 entspricht. Und das dürfte längst nicht alles sein, denn diese Zahl bezieht sich nur auf bekannt gewordene Fälle, bei denen eine Schadenersatzsumme überhaupt öffentlich gemacht wurde.
In einem Papier zu „Investor-Staat-Klagen bei Covid-19-Verlusten“ führt die Kanzlei Sidley einen der verheerenden Gründe auf, warum die Verfahren Staaten derart teuer zu stehen kommen: Im Investitionsrecht sind unter bestimmten Umständen nicht nur bereits investierte Beträge schadenersatzpflichtig, also die tatsächlichen Ausgaben eines Investors, sondern auch entgangene zukünftige Gewinne. Da andere Rechtssysteme in der Regel keinen Schadenersatz für derlei völlig hypothetische Gewinne vorsehen, können Investor-Staat-Schiedssprüche für Unternehmen wesentlich lukrativer ausfallen als Entscheidungen ordentlicher Gerichte.
Auch seine Einseitigkeit macht das internationale Investitionsrecht zu einem für Profitinteressen günstigen Rechtssystem. Denn Investitionsabkommen schreiben Rechte, aber keine Pflichten für ausländische Investoren fest. Die sie auslegenden Schiedsgerichte folgen keinem über Jahrzehnte gewachsenen Eigentumskompromiss – wie beispielsweise dem im bundesdeutschen Verfassungsrecht –, der die soziale Funktion von Eigentum anerkennt und es mit anderen gesellschaftlichen Interessen abwägt. Zudem neigen Schiedsgerichte dazu, staatliche Entscheidungsspielräume stärker einzuschränken als demokratisch legitimierte Gerichte, da letztere aus Achtung vor dem demokratischen Souverän Regierungen und Parlamenten einen weiten Ermessensspielraum bei der Behandlung komplexer politischer Fragen einräumen.
Internationale Zivilgesellschaft fordert Kehrtwende
Die Zusammensetzung der Schiedsgerichte spielt dabei eine wichtige Rolle. Hier sprechen drei von den Streitparteien ernannte Privatpersonen Recht, die pro Verfahren mit Tagessätzen von 3000 US-Dollar bezahlt werden. Das ist ein starker finanzieller Anreiz, das Recht zugunsten der klagenden Investoren auszulegen – denn eine konzernfreundliche Entwicklung des Rechtsfelds bedeutet mehr Klagen, Berufungen und Einkommen für die Schiedsrichter*innen in der Zukunft. Auch Interessenkonflikte sind weit verbreitet, beispielsweise wenn Schiedsrichter*innen in parallelen Klagen als Anwält*innen auftreten und dabei von ihren eigenen Rechtsauslegungen profitieren können.
Die Notwendigkeit, Investor-Staat-Klagen zu verhindern, war selten so klar wie derzeit, wo die internationale Staatengemeinschaft nicht nur mit einer globalen Gesundheits-, sondern auch einer Weltwirtschaftskrise kämpft. In einem offenen Brief rufen mittlerweile mehr als 600 zivilgesellschaftliche Organisationen aus 90 Ländern deshalb ihre Regierungen auf, die Parallelgerichtsbarkeit für Konzerne einzuschränken oder sogar ganz abzuschaffen. Zu den Unterzeichnern zählen unter anderem der Internationale Gewerkschaftsbund IGB und die Metall-, Chemie-, Energie- und Textil-Gewerkschaftsföderation IndustriALL sowie Umwelt-, Entwicklungs- und Nothilfe-Organisationen wie Oxfam, Greenpeace und Ärzte ohne Grenzen. Die Organisationen erheben fünf Forderungen: einen dauerhaften Ausschluss von Covid-19-Notfallmaßnahmen von der Investor-Staat-Schiedsgerichtsbarkeit, ein Moratorium für alle Investor-Staat-Verfahren, einen Zahlungsstopp in Folge von Schiedsurteilen während der Pandemie, den sofortigen Stopp neuer Abkommen mit Klageprivilegien für Konzerne sowie ein Ende entsprechender bestehender Verträge.
Die Ungerechtigkeit beenden
Und tatsächlich gibt es erste Bewegungen in diese Richtung. Ein Entwurf für eine internationale Vereinbarung zur dauerhaften Aussetzung von Investor-Staat-Verfahren gegen Covid-19-Notfallmaßnahmen wird unter Expert*innen bereits diskutiert. In ihrem jüngsten Entwicklungsbericht fordert die UN-Organisation für Handel und Entwicklung UNCTAD ein sofortiges Moratorium für Investor-Staat-Klagen, um notwendige politische Handlungsspielräume in der Pandemie zu schützen. Auch die Aufkündigung alter Investitionsverträge avancierte jüngst zu einem Trend. Nach 2017 war 2019 das zweite Jahr, in dem die Zahl der aufgekündigten Verträge die der neu abgeschlossenen überstieg. Insgesamt sind 350 gekündigte Abkommen bekannt – von Staaten wie Südafrika, Indonesien und Indien. Erst kürzlich haben 23 EU-Staaten, darunter Deutschland, einen Vertrag unterzeichnet, der etwa 130 innereuropäische Investitionsabkommen beenden wird, die der Europäische Gerichtshof für illegal erklärt hatteMit Ausnahme dieser sogenannten Intra-EU-Verträge zählen die deutsche Bundesregierung und das federführende Wirtschaftsministerium unter Peter Altmaier jedoch weiterhin zu den Verfechtern der Sonderklagerechte für Konzerne. Kein Staat hat mehr rechtskräftige bilaterale Investitionsabkommen als die Bundesrepublik – insgesamt knapp 130. Und anders als beispielsweise die Niederlande, die ihre Verträge jüngst reformiert haben, um das Klagerisiko zu minimieren, lässt die Bundesregierung ihre Abkommen unangetastet. Das gilt auch für den Energiecharta-Vertrag, auf dessen Basis die beiden Vattenfall-Klagen gegen Deutschland laufen. Überdies genießen neue Handelsabkommen wie das CETA zwischen der EU und Kanada, die die Spielräume für Investor-Staat-Klagen ausweiten, deutsche Unterstützung.
Die Coronakrise stellt die Legitimität dieses parallelen Rechtssystems, das einige der Reichsten in unserer Gesellschaft besser stellt als alle anderen, nun wie nie zuvor in Frage. Warum sind Investoren und ihr Wunsch nach sprudelnden Gewinnen stärker geschützt als die staatliche Pflicht zum Schutz der Gesundheit und eines angemessenen Lebensstandards? Was ist die Rechtfertigung für ein Sonderrecht, nach dem wohlhabende Wirtschaftsakteure eine günstigere Behandlung erfahren als all diejenigen, die schon jetzt besonders stark unter der Pandemie und ihren Folgen leiden? Diese Fragen bringen die schreiende Ungerechtigkeit der Sonder-Klagerechte für Konzerne auf den Punkt. Diese Ungerechtigkeit zu beenden, ist das Gebot der Stunde.