EU-Handelspolitik: Menschenrechte als Vertragsbedingung?

Kleiderproduktion in Vietnam. Foto: ©flickr

Wenn die EU mit anderen Ländern Freihandelsabkommen schließt, dann soll es nicht nur um zollfreien Warenverkehr gehen, sondern auch um soziale und ökologische Standards. Der Handelsvertrag mit Vietnam ist seit letztem Jahr in Kraft, der Handel floriert. Doch profitieren davon auch Mensch und Umwelt? Eine Analyse des Deutschlandfunks, ausgestrahlt am 16. April 2021.

Vietnam ist eine ökonomische Erfolgsgeschichte. Mehr Wachstum schaffte seit den 1990er Jahren nur China. In einem Video des Internationalen Währungsfonds nennt der Ökonom Vu Thanth Tu Anh von der Fulbright University in Vietnam zwei Gründe für diesen Aufschwung: „Wenn man als Analogie für Vietnams Wirtschaft einen aufsteigenden Adler nimmt, hat er zwei Flügel: Der eine Flügel sind die institutionellen Reformen. Der andere Flügel ist die Öffnung für den Handel.“

Vietnam ist auch eines der letzten kommunistischen Länder. Die Einheitspartei beherrscht das politische System. Laut Verfassung genießen Bürger zwar Grundrechte wie Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit. Doch in der Realität ist es um die Grundrechte schlecht bestellt: Die US-Denkfabrik Freedom House zählt das Land zu den unfreiesten überhaupt. Die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen stuft Vietnam im Pressefreiheitsindex auf Rang 175 von 180 untersuchten Staaten ein.

Vietnam als Test

Soll man also die Frage des Handels mit der Frage grundlegender Rechte für Mensch und Umwelt verknüpfen? Genau das macht die Europäische Union seit 2014 und fügt ihren neuen Freihandelsabkommen spezielle Kapitel zur nachhaltigen Entwicklung an. Das gilt etwa für die Verträge mit Ecuador, Mexiko, Südkorea und eben Vietnam, dem nach Singapur zweitwichtigsten Handelspartner der EU in Südostasien. Angesichts des großen Unterschieds zwischen der ökonomischen Entwicklung und der Lage der Menschenrechte ist Vietnam ein wichtiger Test für den Versuch der EU, durch eine Erweiterung der Handelspolitik um Aspekte von Umweltschutz, Klima, Menschenrechten und Arbeitsbedingungen, die Verhältnisse in einem Handelspartnerland zu beeinflussen.

„Also es geht ja darum, dass wir gesellschaftliche und politische Veränderungen im Partnerland erwirken wollen über das Instrument der Handelsabkommen“, sagt Evita Schmieg. Sie hat Jahrzehnte im Bereich Handelspolitik gearbeitet, für die EU-Kommission und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Zuletzt forschte sie zu dem Thema bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.

„Wir sagen, wir schreiben es in ein Abkommen, als nächstes muss das Partnerland seine Gesetze ändern und es muss danach quasi die Gesetze umsetzen. Daran hängt ja ein ganzer Rattenschwanz von Dingen, es muss die entsprechenden Institutionen schaffen, sofern die noch nicht existieren, zum Beispiel Arbeitsinspektionen, wenn es darum geht, dass man in Unternehmen prüfen will“, so Schmieg.

Handelsabkommen ermöglichten Globalisierung

Nach dem Zweiten Weltkrieg schlossen Staaten multilateral und bilateral immer mehr Freihandelsabkommen ab, um den Handel zu erleichtern. Zunächst durch einen Abbau von Zöllen, später auch von Regulierungen. Mit den Handelsabkommen ermöglichten Regierungen erst die enorme wirtschaftliche Globalisierung, die unsere Epoche prägt. Unabhängig davon schuf die Staatengemeinschaft Standards, etwa für den Bereich Arbeit mit den Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Doch diese Vorgaben spielten in den Handelsabkommen früher keine Rolle. Wann änderte sich das?

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„Die Debatte gab es ja eigentlich international schon 1998, da hatten EU und USA versucht, das Thema Arbeitsstandards in die Welthandelsorganisation einzubringen. Das war kurz bevor man eine neue Handelsrunde startete und da wollte eben die EU und die USA eben dieses Thema reinbringen. Das war damals gescheitert, am Widerstand der Entwicklungsländer“, sagt Evita Schmieg.

Denn billige Löhne sind für Entwicklungsländer ein zentraler Wettbewerbsvorteil. Den wollten sie nicht aufgeben. Bis heute gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen ökonomischer Entwicklung und der Garantie von Umweltschutz und Menschenrechten. Der Ökonom Gabriel Felbermayr vom Kieler Institut für Weltwirtschaft sagt:

„Wo haben wir in Europa da ein Recht einzugreifen und wo beginnt der Protektionismus? Denn man gibt gerne mal vor, Arbeitnehmer in den Entwicklungsländern schützen zu wollen. Aber die Entwicklungsländer sagen dann gerne, ihr schützt ja nicht unsere Arbeitnehmer, denn die werden möglicherweise arbeitslos durch strengere Standards, sondern ihr schützt vor allem Eure eigenen Arbeitnehmer und dann haben wir plötzlich in diesen Freihandelsabkommen recht protektionistische Elemente.“

„Dann gab es natürlich 2015 die internationale Einigung auf die internationalen Nachhaltigkeitsziele“, sagt Evita Schmieg.

Diese umfassen 17 Ziele, die die Vereinten Nationen bis zum Jahr 2030 erreichen wollen: etwa Armut und Hunger beenden und den Zugang zu Trinkwasser sichern.

„Da haben sich ja alle Staaten verpflichtet und nicht nur als Staaten, sondern im Prinzip richten sich ja diese Nachhaltigkeitsziele an sämtliche Akteure. Alle haben sich verpflichtet Nachhaltigkeit im Handeln, im Regierungshandeln und im Handeln der Institutionen breiter zu verankern. Das heißt, dass die das Thema Nachhaltigkeit berücksichtigen“, sagt Evita Schmieg.

Armutsquote sank stark

Vietnam profitiert enorm vom globalen Handel. Anfang der 1980er Jahre gehörte es noch zu den ärmsten Ländern der Welt. Seither konnte die Armutsquote stark gesenkt werden. Die Wende gelang, nachdem die kommunistische Regierung 1986 angesichts drohender Hungersnöte mit den so genannten Đổi-Mới-Reformen eine sozialistisch orientierte Marktwirtschaft einführte. Abertausende private Unternehmen entstanden. 2007 trat das Land der Welthandelsorganisation bei und wurde in diverse globale Lieferketten eingebunden, etwa in den Branchen Elektronik und Textilien. Trotz Pandemie wuchs die Wirtschaft 2020; und auch für 2021 erwarten Experten ein deutliches Plus.

Ökonom Gabriel Felbermayr sagt: „Vietnam hat sicherlich aktuell eine sehr hohe Verhandlungsmacht, denn die EU und auch die USA sind darauf angewiesen, dass im asiatischen Raum Alternativen entstehen gegenüber China, und Vietnam spielt diese geostrategische Rolle sehr clever aus.“

Territorialkonflikte mit China

Der Mittelmacht Vietnam ist politisch und wirtschaftlich an guten Beziehungen zu den USA und der EU gelegen, weil das Verhältnis zum übermächtigen Nachbarn China ambivalent ist. Einerseits sind beide Länder wirtschaftlich eng miteinander verbunden, andererseits gibt es Territorialkonflikte im südchinesischen Meer.

Zudem ist die EU mit dem weltweit größten Binnenmarkt auch für Vietnam attraktiv. Im August vergangenen Jahres ist das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Vietnam in Kraft getreten: 65 Prozent der EU-Exporte nach Vietnam und 71 Prozent der EU-Importe aus Vietnam sind seither zollfrei. In den nächsten Jahren sollen sogar 99 Prozent der Zölle wegfallen. Vietnam verpflichtete sich im Rahmen dieses Abkommens unter anderem zur Ratifizierung der acht grundlegenden ILO-Konventionen und deren Umsetzung, etwa gegen Kinderarbeit und für Tarifverhandlungen.

Handelsexpertin Evita Schmieg erklärt: „In Vietnam kann man eigentlich sagen, dass das Abkommen schon zu einer verbesserten Umsetzung der ILO-Konventionen geführt hat, und schon im Vorgriff auf die Ratifizierung oder auf den Abschluss des Abkommens oder auf die Ratifizierung in der EU hat Vietnam die Konvention Nr. 98 zu Tarifverhandlungen ratifiziert und das Arbeitsrecht überarbeitet. Weitere Schritte sind geplant, mit denen dann letztlich diesen Anforderungen des Abkommens genüge getan werden soll.“

Insofern ist der Freihandelsvertrag mit Vietnam ein gutes Beispiel für den Versuch der EU, auch die Lage der Menschenrechte oder die Arbeitsbedingungen zu beeinflussen. Doch wie wirksam sind solche Vereinbarungen?

In Vietnam gab es bisher nur eine einzige legale Gewerkschaft – und die ist abhängig von der regierenden kommunistischen Partei und den Arbeitgebern. Unabhängige Gewerkschaften waren verboten.

Betriebsgewerkschaften sollen kommen

Neuerdings erlaubt die Regierung aber Mitbestimmung auf betrieblicher Ebene. Die Rede ist von Betriebsgewerkschaften, die aber wohl eher mit Betriebsräten vergleichbar sind. Bernd Lange, SPD-Europaabgeordneter und Vorsitzender des Handelsausschusses im EU-Parlament, sieht darin einen Fortschritt.

Er sagt: „Zunächst einmal geht es darum, die fundamentalen Rechte kollektiv zu verhandeln und in einer Gewerkschaft, auch in einem Betrieb, zum Beispiel bei Samsung, einem der größten Elektronikhersteller in Vietnam und größten Exporteur Vietnams, wo mitunter unterirdische Arbeitsbedingungen herrschen, sich zusammenschließen und das Recht über die Arbeitsbedingungen und natürlich auch die Löhne zu verhandeln. Und das ist in der Tat ein großer Schritt. Es war ja auch nicht unumstritten. Die Einheitsgewerkschaft hat das natürlich nicht so besonders schön gefunden.“

Aber was kann eine unabhängige Mitbestimmung in Betrieben bewirken, wenn sich die Organisationen nicht zusammenschließen können?

Frank Zach vom Deutschen Gewerkschaftsbund sagt: „Wenn man eine vernünftige Organisation aufbaut, dann fängt sie unten an und geht dann langsam nach oben und auch eine Meinungsbildung sollte von unten nach oben erfolgen. Das sind ja ganz bestimmte demokratische Prinzipien. Von daher spielen natürlich auch die Frage der Gestaltung von Arbeitsbedingungen immer auch betrieblich eine ganz große Rolle. Aber wenn man die Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation sich aufmerksam durchliest, dann steht da auch drin, dass zu der Vereinigungsfreiheit es auch gehört, dass man sich zusammenschließen kann zu Branchenorganisationen oder zu Föderationen oder Konföderationen, und das gehört aus meiner Sicht dazu.“

Freie Gewerkschaften auf nationaler Ebene sind in Vietnam allerdings weiterhin nicht vorgesehen. Viele wichtige Fragen sind mit Blick auf die Betriebsgewerkschaften auch noch offen: Wie werden sie sich finanzieren? Welche Rolle werden die Betriebsgewerkschaften in Lohnverhandlungen spielen können? Und wie werden sich die Machthaber gegenüber den freien Arbeitnehmervertretungen verhalten? Schließlich greifen die Behörden immer wieder hart gegen unabhängige Akteure durch.

„Zahnlosen Nachhaltigkeitskapitel“

Die Menschenrechts-Lage habe sich seit dem Abschluss des Freihandelsabkommens weiter verschlechtert, sagt die Grünen-Politikern und EU-Parlamentarierin Anna Cavazzini:

„Es wurden weitere politische Aktivisten festgenommen in großem Stil, Grundrechtewerte eingeschränkt und auf der anderen Seite hat die Europäische Union nicht reagiert und nichts gemacht und das ist für mich eigentlich wiederum ein Zeichen, dass die zahnlosen Nachhaltigkeitskapitel und die Vorgaben, die es in diesen Handelsabkommen gibt, am Ende nicht so viel bringen.“

Denn es ist ja auch die Frage, wie diese Standards, die im Freihandelsabkommen vereinbart wurden, überhaupt kontrolliert werden. Üblicherweise gibt es dafür Streitschlichtungsverfahren und Sanktionsmechanismen. Vor allem die Arbeitsweise der Schiedsstellen ist auch in anderen EU-Freihandelsabkommen häufig kritisiert worden. Unbestritten ist jedoch ihre Wirksamkeit. Aber diese Mechanismen gelten nicht für die Nachhaltigkeitskapitel der EU-Freihandelsabkommen. Dafür gibt es ein eigenes Verfahren, das nach Ansicht von Kritikern wesentlich schwächer ist.

So genannte Domestic Advisory Groups – interne Beratungsgruppen – überprüfen regelmäßig die Einhaltung der Nachhaltigkeitsbestimmungen.

Der EU-Parlamentarier Bernd Lange sagt: „Bei Vietnam noch ganz wichtig, dass natürlich auch die Zivilgesellschaft über die Domestic Advisary Groups in die Umsetzung einbezogen wird und wir auch damit auch das erste Mal eine Akzeptanzirrung von Civil Society haben und auch ein Stück weit Selbstorganisation.“

Unter dem kommunistischen Regime in Vietnam könnte es für unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen aber sogar gefährlich sein ins Rampenlicht zu rücken, berichten Experten vor Ort.

„Unabhängige Bewegung gibt es nicht“

Grünen-Politikerin Cavazzini hegt grundsätzliche Zweifel: „Ich glaube nicht, dass die vietnamesische Regierung es zulassen würde, dass unabhängige NGOs in diesen Dialogforen teilnehmen. Also ein großer Teil der so genannten Zivilgesellschaft in Vietnam sind ja dann eher regierungsgesteuert und eine wirkliche unabhängige Bewegung gibt es nicht, beziehungsweise wird nie im Leben von der Regierung offiziell einbezogen werden.“

In strittigen Fällen kann ein unabhängiger Vermittlungsausschuss eingesetzt werden, der den Fall untersucht und einen Bericht vorlegt, den beide Handelspartner überprüfen. Dann trifft der Ausschuss eine endgültige Entscheidung. Die angeklagte Partei muss innerhalb einer bestimmten Zeit berichten, inwiefern sie die Missstände beseitigt. Allerdings gibt es keinen Sanktionsmechanismus.

Das kritisiert auch der Sozialdemokrat Bernd Lange: „Wenn der Spruch dieses Paneels von Experts nicht akzeptiert wird, dann müssen wir Sanktionen setzen können, insbesondere natürlich Kompensierung für mögliche Verletzungen: Also Arbeitnehmerrechtsverletzungen, das Gewerkschaften entschädigt werden oder die Kollegen oder ganz platt, wenn eben ein Baum gefällt wird, ein neuer gesetzt wird.“

Lange Zeit lehnte die EU-Kommission dies ab, dann kam der Brexit.

„Übrigens hat die Kommission das erste Mal von diesem Prinzip, das nicht einführen zu wollen, jetzt abgewichen bei dem Abkommen mit dem Vereinigten Königreich“. erklärt Lange.

Sollte Großbritannien ökologische oder soziale Standards senken, könnte die EU Zölle heraufsetzen oder andere Handelssanktionen verhängen, um die Briten zum Umdenken zu veranlassen. Könnte das ein Beispiel sein auch für andere Handelsverträge?

Die Grünen-Politikerin Anna Cavazzini sagt: „Also der Druck steigt und die Kommission hat zugesagt, dass sie noch in diesem Jahr prüfen werden, einklagbare und wirklich sanktionierbare Nachhaltigkeitskapitel auf den Weg zu bringen.“

USA haben harten Sanktionsmechanismus

Die USA und Kanada verbinden Freihandelsabkommen ebenfalls mit Vorgaben zur Einhaltung bestimmter sozialer und ökologischer Standards. Die USA haben dafür auch einen harten Sanktionsmechanismus, etwa die Rücknahme von Zollerleichterungen. Kanada droht bei Verstößen mit finanziellen Strafen. Die Partnerländer müssten dann kein Geld an Kanada zahlen, sondern in ihrem Haushalt eine entsprechende Summe für den betroffenen politischen Bereich bereithalten.

Wegweisend, findet Evita Schmieg: „Es kommt diese Diskussion ins Parlament, dass da mehr Geld für den Sektor zur Verfügung gestellt werden muss, man bekommt dadurch ein Augenmerk auf die Probleme, die bestehen. Also wieder unter dem Aspekt Diskussion im Land, gesellschaftliche Veränderung, glaube ich eben, dass dieses Instrument vielleicht eher geeignet ist, was zu erreichen.“

Aber welchen Wert hätte das in einem Land mit einer Einparteienherrschaft wie Vietnam? Wichtig wäre es wohl auch, die Folgen der Handelsabkommen selbst für Mensch und Umwelt in den Partnerländern der EU zu berücksichtigen. Was hat man davon, Vorgaben für die Einhaltung von Standards zu machen, wenn durch den zunehmenden Handel selbst Umwelt- und Menschenrechte öfter verletzt werden?

Michael Windfuhr, Vizedirektor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, sagt: „Zum Beispiel weil Indigene vertrieben werden im Regenwald, zum Beispiel weil Kleinbauern in Afrika von europäischen Überschussagrarprodukten überschwemmt werden und dadurch ihre sozusagen Einkommen verlieren, gibt es eine Möglichkeit darauf zu reagieren – und die gibt es bislang nicht in den Umwelt- und Handelsabkommen.“

Deswegen sei es wichtig, eine Art Notfallmechanismus in solche Abkommen einzubauen.

„Wenn was schief geht, dass Länder das Recht haben auch wieder sozusagen sagen, stopp zu machen. Zu sagen, wir müssen das erst mal überprüfen“, so Windfuhr.

Entwicklungsländer wünschen sich Notfallmechanismen

Für Michael Windfuhr wäre ein solcher Mechanismus auch eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Welthandelsorganisation WTO wieder an Einfluss gewinnt. Eigentlich soll die WTO die Regeln für den gesamten Welthandel festlegen. Dafür muss jedes Land zustimmen. Weil das aber schon lange nicht mehr gelingt, schließen Länder oder Ländergruppen wie die EU immer mehr bilaterale Abkommen. Ein wichtiger Grund für die Blockade der WTO sei, dass Entwicklungsländer sich die angesprochenen Notfallmechanismen wünschten.

Das sei nachvollziehbar, sagt Michael Windfuhr: Sonst sei das Risiko zu groß, dass die Ausweitung des Handels durch das Handelsabkommen erhebliche soziale und ökologische Probleme schaffe, etwa, weil mehr Urwald für den Anbau von Soja gefällt werde oder Kleinbauern vertrieben würden, um Platz für große Agrarbetriebe zu schaffen.

Windfuhr sagt: „Diese Sensorik, da sind wir gerade erst am Anfang das wirklich zu lernen und die momentan vorhandenen Nachhaltigkeitskapitel sind ein Mini-Mini-Aspekt eigentlich davon und nicht ausreichend in dem Sinne.“

Handelsexpertin Evita Schmieg warnt ebenfalls vor zu hohen Erwartungen an die Umwelt- und Menschenrechtsstandards in den Handelsabkommen: „Im Prinzip sind Handelsabkommen dazu da, Handelsregeln festzulegen. Und was wir wollen sind andere Dinge und wir nutzen die Abkommen als Hilfsmittel. Das Grundproblem ist ja nicht, dass der Außenhandel, dass diese Abkommen irgendwie schlecht wären, sondern der Außenhandel ist deswegen nicht nachhaltig, weil Produktion und Konsum nicht nachhaltig sind.“

Handel durch Liberalisierung verändert

Zudem hat sich der Handel durch die Liberalisierung verändert. Heute werden über 70 Prozent der Handelsbewegungen entlang von Lieferketten von Unternehmen getätigt, mit zahlreichen Vor- und Zwischenprodukten.

EU-Parlamentarier Bernd Lange sagt:“Also so ein Smartphone hat etwa 32.000 Kilometer zurückgelegt, alle Vorprodukte zusammen genommen und natürlich dann auch 100 Grenzen überschritten. Und das zeigt, dass man mit einem einzelnen bilateralen Abkommen im Grunde diese Lieferkette gar nicht mehr abbilden kann.“

„Also eine gute Kombination aus verbesserten, klügeren Nachhaltigkeits- und Menschenrechtsteilen in den Handelsabkommen und ein Lieferkettengesetz könnten wirklich helfen an den Stellen mehr Regeln durchzusetzen, die für den Welthandel dringend notwendig sind, gerade nachdem er durch die handelspolitisch gewollte Globalisierung so zugenommen hat“, so Windfuhr.

Aber es wäre wohl auch naiv zu glauben, dass dies der EU mit allen Handelspartnern gelingen könnte. Die Mittelmacht Vietnam mag sich noch auf Drängen der EU ein Stück bewegen, ganz anders dürfte es etwa bei China aussehen. Mit der Weltmacht hat die EU ein Investitionsabkommen ausgehandelt, dem das EU-Parlament noch zustimmen muss. Auch hier setzt die EU auf ein Nachhaltigkeitskapitel.