Dass Politiker*innen spärlich mit der Wahrheit umgehen, ist nicht neu. Aber wenn ein Ministerpräsident offenkundig lügt, verblüfft das doch. Genau das tat aber Winfried Kretschmann bei einem Bürgerdialog im September 2021, als er auf eine Frage aus dem Publikum zum umstrittenen Handelsvertrag CETA mit Kanada antwortete.
Hintergrund der Frage war, dass sich die Partei der Grünen zum Zeitpunkt des Dialogs (vor der Bundestagswahl 2021) sowohl auf Bundes- wie auf Landesebene fast einhellig gegen CETA ausgesprochen hatte. In den vorausgegangenen Jahren waren die Grünen zudem mit Zigtausenden freihandelskritischen Bürger*innen und vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen gegen die Freihandelspolitik der EU auf die Straße gegangen.
Und das aus guten Gründen: Das Abkommen ermöglicht unter anderem Konzernklagen gegen dringend notwendige Klima-, Umwelt-, Artenschutzmaßnahmen. Es senkt europäische Verbraucherschutz-Standards, schränkt den Handlungsspielraum von Kommunen ein, bedroht die Rechte von Beschäftigten, zerstört nach und nach die demokratische Grundlage nationaler und regionaler wirtschafts- und sozialpolitischer Entscheidungen, schützt Investitionen in fossile Energieträger und schafft das europäische Vorsorgeprinzip ab. Dieses schreibt vor, dass Waren erst dann auf den Markt gebracht werden dürfen, wenn deren Unbedenklichkeit nachgewiesen ist. Darüber hinaus werden durch das Abkommen Gremien geschaffen, die ohne nationale parlamentarische Zustimmung Vertragsinhalte anpassen und verändern können.
All diese (ehemals auch grüne) Kritik erwähnte der Fragesteller Martin Baumgärtel beim Bürgerdialog mit dem Ministerpräsidenten und fragte, ob Ministerpräsident Kretschmann gedenke, das EU-Kanada-Abkommen abzulehnen, wenn darüber abgestimmt wird. Ein klares Nein zu CETA werde von ihm nicht kommen, antwortete daraufhin der grüne Politiker, der schon früher seine Zustimmung zu diesem Abkommen signalisiert hatte. Überhaupt bezweifle er die Richtigkeit der vom Fragesteller erwähnten Sachverhalte.
Und dann fügte er hinzu: „Ich habe alle zehn Ministerien in der letzten Legislaturperiode [im Zeitraum 2016 bis Frühjahr 2021] prüfen lassen, ob es stimmt, was Sie behaupten. Alle zehn, schwarze wie grüne Häuser, kein einziges Haus hat es bestätigt – kein einziges.“ Siehe dazu die Videoaufzeichnung des Dialogs (hier klicken!)
„Kein Prüfauftrag“, „keine Anfrage“
Aber stimmt das auch? Das wollte Carsten Trost vom Konstanzer Bündnis für gerechten Welthandel genauer wissen und hat bei allen zehn Ministerien nachgefragt, ob es eine CETA- Anfrage des Ministerpräsidenten oder seines Staatsministeriums gab. Wie sich herausstellte, ging bei keinem einizigen Haus eine solche Bitte um Stellungnahme ein, bei keinem einzigen.
„Nach unseren Recherchen sind in dem von Ihnen bezeichneten Zeitraum keine entsprechenden Prüfaufträge des baden-württembergischen Staatsministeriums im Wissenschaftsministerium eingegangen“, schrieb beispielweise Ministerialrat Lutz Bölke vom Wissenschaftsministerium (am 24. Februar 2023). Vom Wirtschaftministerium antwortete am 7. März 2023 ein Herr (oder eine Frau) Graf: „Aufgrund der Aktenlage können wir Ihnen mitteilen, dass es im genannten Zeitraum seitens des Staatsministeriums keine Anweisungen bzw. Anfragen gegenüber dem Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus gab.“ Vom Finanzministerium hieß es am 13. März: „Aufgrund der Aktenlage können wir Ihnen mitteilen, dass Dokumente, wie die angefragten, mangels erfolgter Weisung nicht vorhanden sind.“ Geantwortet haben auch die Ministerien für Verkehr, Justiz, des Inneren, für Kultus, Umwelt und Soziales. Keines wurde vom Büro des Ministerpräsidenten um Stellungnahme gebeten, keines wurde gefragt, wie seine Fachleute die Folgen von CETA für ihren Bereich der Landespolitik beurteilen.
Ohne Rücksicht auf Verluste?
Das wirft mehrere Fragen auf: Wie skrupellos sind manche Politiker*innen inzwischen eigentlich geworden? Kann man solche Positionen nur noch bekleiden, wenn man ohne Rücksicht auf Verluste handelt, also ohne auf den Schaden zu achten, den eigene Entscheidungen der demokratischen Grundstruktur unserer Gesellschaft – und dem Klima – zufügen? Geht es den verantwortlichen Politiker*innen der Grünen nur noch darum, ihren Anteil am parteipolitischen Machtuniversum auf Bundes- und Landesebene zu erhalten?
Ist die Basis in den Gemeinden und Kommunen von „denen da oben“ abgehängt worden? Oder (was schlimmer wäre): Ist sie inzwischen selbst so machthungrig, dass sie alles schluckt, was die Führung ihr vorwirft? Selbst wenn es den Verrat der eigenen Ideale und Ansprüche bedeutet? Sicher jedoch ist: Wenn sich Führungspersonal und Basis der Parteien nicht besinnen, brauchen sie sich nicht wundern, wenn sich ein Teil der Bevölkerung – enttäuscht von „der Elite“ – in Richtung der rechten Parteien bewegt.
Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte sein, dass sich die Bevölkerung ihre Souveränität zurückerobert – denn die Parteien allein sind nicht in der Lage, umfassende Antworten auf die globalen Krisen zu geben. Das sollte uns allen endlich bewußt werden. Mit der Verhinderung des CETA-Abkommens (etwa mit Hilfe einer Verfassungsklage) durch uns, die Zivilgesellschaft, wäre ein erster, ganz wichtiger Schritt getan.
Foto oben: Staatsministerium Baden-Württemberg