Seit 1999 will die EU mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten die größte Freihandelszone der Welt auf die Beine stellen – bisher erfolglos. Oft schien eine Einigung schon in Griffweite, letztlich kam aber kein Deal zustande. Jetzt sehen manche in Brüssel einen kleinen Hoffnungsschimmer.
Hier ein ausführlicher Bericht des ORF von Anfang Oktober:
Das Mercosur-Abkommen würde die größte Freihandelszone der Welt mit fast 800 Millionen Menschen schaffen. Aus dem Abbau von Zöllen und Handelsschranken sollen beide Seiten Profit schlagen. die südamerikanischen Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und Bolivien vor allem mit dem Export von Lebensmitteln und Rohstoffen, die EU mit Autos und Industriegütern.
Je nachdem, wen man in Brüssel befragt, stehen die Überlebenschancen des Abkommens, das seit mittlerweile 25 Jahren verhandelt wird, einmal besser, einmal schlechter. Das Nachrichtenmagazin „Politico“ sieht eine letzte große Gelegenheit für eine Einigung, der Thinktank Bruegel hält das Abkommen für bereits gescheitert, schrieb das deutsche „Handelsblatt“ vor Kurzem.
Frankreich wird Schlüsselrolle spielen
Einig sind sich aber praktisch alle, dass Frankreich, insbesondere Präsident Emmanuel Macron, eine entscheidende Rolle für den Ausgang spielen wird. Denn Paris hatte eine Einigung in der Vergangenheit schon mehrfach blockiert. Erst im Jänner war man einem Deal nahe. Damals soll eine einzige Textnachricht des französischen Präsidenten an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gereicht haben, die Gespräche versanden zu lassen, schrieb „Politico“.
Doch jetzt sieht die Situation anders aus: Von der Leyen wurde bei der EU-Wahl im Mai als Kommissionspräsidentin bestätigt, sie ist auf Macrons Unterstützung weniger angewiesen als noch vor ein paar Monaten. Der französische Präsident hat indes mit der Neuwahl in seinem Land und der nun frischen konservativen Regierung seine Position nicht nur in Frankreich, sondern auch in Brüssel deutlich geschwächt.
Da hilft es auch nicht, dass Macrons neue Regierung den Mercosur-Deal noch vehementer ablehnt, als das vor der Neuwahl der Fall war. Sowohl der neue Premierminister Michel Barnier als auch das rechtspopulistische Rassemblement National, auf das die Minderheitsregierung wohl angewiesen sein wird, gelten als Mercosur-Gegner.
Scholz pochte auf schnellen Abschluss
Überlegt wird in Brüssel laut „Politico“ jetzt offenbar, Frankreichs Widerstand zu ignorieren und den Rückenwind der EU-Wahl zu nützen, um von der Leyen einen schnellen Abschluss zu ermöglichen. Unterstützung erhält sie dabei von Deutschlands Kanzler Olaf Scholz, der als großer Befürworter des Mercosur-Abkommens gilt. Er hatte im September mit zehn weiteren Staaten einen Brief an die Kommissionspräsidentin geschrieben und mehr Tempo hin zu einer Einigung gefordert.
Auch auf der anderen Seite des Atlantiks zeigt man sich hoffnungsvoll: Brasiliens Präsident Luiz Inacio Lula da Silva sagte Ende September, er sei „noch nie so optimistisch“ gewesen, was das Abkommen anbelange. „Wenn die EU bereit ist, können wir das Handelsabkommen während des G-20-Treffens in Brasilien unterzeichnen“, so Lula.
Das Treffen der Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer findet im November in Rio de Janeiro statt. Von der Leyen traf zuletzt nicht nur Lula, sondern auch Argentiniens ultraliberalen Präsidenten Javier Milei, der ebenfalls seine Unterstützung signalisierte.
Österreich gehört zu größten Kritikern
Macron kritisierte das Abkommen erst vergangene Woche bei einem Event in Berlin als „unfair“. „Man kann der Industrie und den Bauern nicht Vorschriften auferlegen“, so Macron laut der Nachrichtenagentur Bloomberg, und sich gleichzeitig „Volkswirtschaften öffnen, die mit diesen Vorschriften überhaupt nicht im Einklang stehen.“
Doch der Block der Kritiker ist klein: Neben Frankreich gilt etwa Österreich als Gegner des Abkommen. Österreichs Parlamentsparteien – mit Ausnahme von NEOS – sprachen sich 2019 gegen den Pakt aus. Auch Irland, Polen und die Niederlande gelten als eher zurückhaltend. Selbst wenn sich all diese Länder zusammentun würden, könnte eine Mehrheit nicht gekippt werden.
NGOs kritisieren fehlenden Umweltschutz
Kritikerinnen und Kritiker befürchten, dass europäische Bäuerinnen und Bauern künftig in einen Preiskampf gezwungen werden und gleichzeitig die Regenwaldzerstörung in Südamerika befeuert wird. Die globalisierungskritische NGO ATTAC kritisierte dahingehend die von der EU aufgeschobene Entwaldungsverordnung – eine Verschiebung, auf die Brasilien gepocht hatte.
„Um ein ohnehin klimaschädliches Abkommen durchzubekommen, ist die EU offensichtlich sogar bereit, ein schon beschlossenes Gesetz zum Schutz von Wäldern zurückzustellen“, hieß es in einer Aussendung. Am Dienstag forderte ATTAC die österreichische Regierung dazu auf, der EU das Verhandlungsmandat zu entziehen.
Doch mit dem Abkommen soll auch der steigende Einfluss Chinas in Südamerika gebremst werden. Brüssel erhofft sich darüber hinaus Zugriff auf Rohstoffe, die für die Energiewende benötigt werden – und die sich ohne Abkommen andere Länder sichern könnten.
Kniff könnte Abkommen sichern
Unklar ist, ob sich die EU überhaupt über Frankreich hinwegsetzen will. Nach außen will man wohl signalisieren, einen Deal mit breiter Unterstützung erreicht zu haben. Das könnte allerdings so oder so mit einem Kniff gelingen – auch ohne Paris’ Segen.
Das Abkommen könnte nämlich auch zweigeteilt werden: Die wesentlichen Punkte des Handelsdeals brauchten damit nur eine Zustimmung der qualifizierten Mehrheit, also von 15 Mitgliedsstaaten, die mehr als 65 Prozent der EU-Bevölkerung ausmachen. Nur die übrigen Punkte, die etwa politische Kooperationen und Investitionen anbelangen, müssten in den Parlamenten der Mitgliedsstaaten durchgebracht werden. Diese Idee wurde schon im Vorjahr scharf kritisiert, auch in Österreich. Sie könnte für von der Leyen aber vielleicht die einzige Möglichkeit sein, den Mercosur-Deal überhaupt noch zu retten.